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Cicero Die 100 Auf- und Absteiger des Jahres (Vorschau)

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Roman<br />

Stiegen, Straßenbahnen,<br />

schöne Beine<br />

Einer der ungewöhnlichsten Großstadtromane <strong>des</strong><br />

20. Jahrh<strong>und</strong>erts: H. v. Doderers „Strudlhofstiege“<br />

<strong>Die</strong> schönen Frauen, so meinte<br />

Proust einmal, soll man den fantasielosen<br />

Kerlen überlassen. Bekanntlich<br />

kann man sich jemanden auch<br />

schöntrinken, aber die würdigere <strong>Auf</strong>gabe<br />

besteht doch darin, ohne Rückgriff<br />

auf psychotrope Substanzen Schönheit<br />

dort zu entdecken, wo diese nicht offen<br />

zutage liegt. In seinem 1951 erschienenen<br />

Roman „<strong>Die</strong> Strudlhofstiege“ hat<br />

Heimito von Doderer ein Bauwerk zur<br />

Titelheldin gemacht, das ohne diese literarische<br />

Intervention wohl weitgehend<br />

unbeachtet geblieben wäre: Er könne gar<br />

nicht verstehen, „dass die Menschen hier<br />

so achtlos <strong>und</strong> ohne Achtung vor dem<br />

Werk hinauf <strong>und</strong> hinunter rennen“, lässt<br />

Doderer seinen Protagonisten, den Major<br />

(<strong>und</strong> späteren Amtsrat) Melzer, sagen.<br />

Dass die Strudlhofstiege heute stark<br />

an Beachtung <strong>und</strong> Bedeutung gewonnen<br />

hätte, lässt sich kaum behaupten.<br />

Sie liegt abseits der touristischen Trampelpfade<br />

<strong>und</strong> wird nur von literarischen<br />

Kennern aufgesucht. <strong>Die</strong> <strong>Auf</strong>gabe eines<br />

Großstadtromans ist es freilich auch<br />

nicht, das offizielle Bild der Stadt zu beglaubigen<br />

<strong>und</strong> mit ein paar fiktiven Figuren<br />

zu dekorieren. Sie besteht ganz im<br />

Gegenteil darin, die Hierarchie der Bedeutsamkeiten<br />

über den Haufen zu werfen<br />

<strong>und</strong> neu zu ordnen. Womit wir wieder<br />

bei den schönen Frauen wären.<br />

Zwar flanieren auch die Figuren der<br />

„Strudlhofstiege“ über den „Graben“,<br />

doch das imperiale Zentrum der Gründerzeit<br />

spielt darin keine große Rolle.<br />

Doderers Wien ist strudlhofstiegenwärts<br />

verschoben, es liegt knapp außerhalb <strong>des</strong><br />

„Rings“ am „Alsergr<strong>und</strong>“, wie der neunte<br />

Gemeindebezirk genannt wird. Im Unterschied<br />

zum angrenzenden achten oder<br />

zum siebenten Bezirk ist dieser kein monotones<br />

Schachbrett, sondern wird von<br />

Sichtschneisen, Geländekanten <strong>und</strong> dem<br />

Donaukanal samt seinen Ufern <strong>und</strong> Brücken<br />

geprägt.<br />

So schwierig es ist, den Überblick<br />

über das weitverzweigte Figurenensemble<br />

zu behalten, so gut kann man sich<br />

andererseits geografisch orientieren: Doderer-Land,<br />

das ist vor allem das Grätzl<br />

zwischen Währingerstraße <strong>und</strong> Donaukanal,<br />

im Norden begrenzt durch die<br />

Alserbachstraße <strong>und</strong> das anschließende<br />

Lichtental (bei Doderer: „Liechenthal“).<br />

<strong>Die</strong>ses war damals noch ein rein dörfliches<br />

Gebiet, das nicht nur im deutlichen<br />

Gegensatz zum urbanen Gewusel um<br />

den Althanplatz (heute: Julius-Tandler-<br />

Platz) steht, sondern darüber hinaus dem<br />

großteils großbürgerlichen Personal die<br />

kleinbürgerlich-proletarische Welt der<br />

Paula Schachl entgegensetzt.<br />

Doderer hält sich akribisch an die<br />

reale Stadttopografie <strong>und</strong> ist doch zugleich<br />

ein Raummythologe allererster<br />

Ordnung, der nicht nur den Genius Loci<br />

einer Stiege, ach was: einer „Ode mit<br />

vier Strophen (…) in Gestalt einer Treppenanlage“<br />

zu evozieren vermag, sondern<br />

an diesen Genius Loci auch wirklich<br />

glaubt. „Ich bin hier einfach besser,<br />

als ich im dritten Bezirk dort drüben bin,<br />

ich mach’ es besser, ich mach’ alles besser“,<br />

ruft sein Alter Ego, der Historiker<br />

René Stangeler, in einer Konditorei in<br />

der Alserbachstraße (Stichwort: Indianerkrapfen!)<br />

aus.<br />

Fraglos ist die Strudlhofstiege selbst<br />

zu den Protagonisten <strong>des</strong> Romans zu<br />

zählen, <strong>und</strong> auch die beiden mit ihrer<br />

Eineiigkeit einen unheilvollen Schabernack<br />

aufführenden „Duplizitäts-Gören“<br />

namens Pastré haben ihr architektonisches<br />

Pendant: die (nur bei Doderer)<br />

so genannten „Miserowsky’schen Zwillinge“,<br />

ein Doppelwohnhaus nämlich in<br />

der Porzellangasse. Des Doppelns wird<br />

der Doktor Doderer auch in der Interpunktion<br />

nicht müde, <strong>und</strong> diese Doppelpunkte,<br />

derer bis zu vier in einem einzigen<br />

Satz Verwendung finden, stehen für<br />

die Gr<strong>und</strong>bewegung <strong>des</strong> Romans: das<br />

sich Öffnende, Verbreiternde, die Ferne<br />

<strong>Auf</strong>schließende.<br />

So wie Charles Dickens’ „Große Erwartungen“<br />

nicht bloß ein London-, sondern<br />

ein Themse-Roman ist, so ist „<strong>Die</strong><br />

Strudlhofstiege“ auch ein Donau-, mehr<br />

noch: ein Donaukanal-Roman. Von Anfang<br />

an, wenn Mary K. dort mit dem stets<br />

etwas <strong>des</strong>pektierlich beschriebenen Doktor<br />

Negria („eine fuchtelnde Natur, ein<br />

Interventionist“) „so gut wie verabredet“<br />

ist, stellt Nußdorf, wo der Donaukanal<br />

in die Donau mündet, einen wichtigen<br />

Fluchtpunkt dar: „Der Donau-Hauptstrom<br />

öffnete doch alles weit unwidersprechlicher,<br />

er ließ sich gar nicht ein<br />

mit dem hitzemürben Zerfall, welchen<br />

die Menschen von beiden Seiten an ihn<br />

heranbrachten.“<br />

Wobei wir mit Mary K. ein letztes<br />

Mal bei den schönen Frauen <strong>und</strong> auch bei<br />

„zwei sehr schönen Beinen“ wären. Sie finden<br />

bereits im ersten Satz <strong>des</strong> Ro mans Erwähnung<br />

– ebenso wie der traurige Umstand,<br />

dass eines davon der Mary K. am<br />

21. September 1925 „über dem Knie abgefahren“<br />

werden wird. „<strong>Die</strong> Strudlhofstiege“<br />

ist neben Bulgakows „Der Meister<br />

<strong>und</strong> Margarita“ fraglos der bedeutendste<br />

straßenbahnunfallprognostizistische Roman<br />

<strong>des</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts. Und wie Doderer<br />

diesen 21. September auf den Seiten<br />

769 bis 859 seinem unheilvollen, zugleich<br />

aber die Handlungsstränge <strong>und</strong> Liebeshändel<br />

souverän entrollenden <strong>und</strong> miteinander<br />

verknüpfenden Höhepunkt entgegentreibt,<br />

das ist in seiner kinematografischen<br />

Präzision von minutengenau getakteten,<br />

den unweigerlich eintretenden Unfall fast<br />

sadistisch hinauszögernden Schauplatz<strong>und</strong><br />

Perspektivenwechseln von einer Virtuosität,<br />

die ihresgleichen sucht. Das Lesevergnügen<br />

wird also gewiss auch dadurch<br />

nicht getrübt, wenn man weiß, dass der<br />

Melzer … Aber vielleicht verraten wir das<br />

doch lieber nicht. Klaus Nüchtern<br />

Heimito von Doderer<br />

„<strong>Die</strong> Strudlhofstiege“<br />

C. H. Beck, München 2013. 944 S., 28 €<br />

131<br />

<strong>Cicero</strong> – 1. 2014

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