Cicero Die 100 Auf- und Absteiger des Jahres (Vorschau)
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Fotos: Ullstein Bild [M], Brigitta Erdoedy [M]<br />
im Bann der Kanzlerin. Es dauerte drei<br />
Monate, bis er sich da wieder herausgearbeitet<br />
hatte. Mit einer Geste. Vor allem<br />
mit einer Geste.<br />
Es gibt eine Ebene, auf der die beiden<br />
sich treffen, das ist unverkennbar. Er,<br />
Gabriel, hat einmal über Merkel gesagt:<br />
„Ich schätze an ihr, dass sie ihr Amt nicht<br />
wie eine Monstranz vor sich herträgt. Sie<br />
hat Selbstironie. Das macht sie gr<strong>und</strong>sympathisch.<br />
Und sie ist sehr verlässlich.“<br />
<strong>Die</strong> ersten drei Sätze hätte Merkel<br />
auch immer über Gabriel sagen können.<br />
Sie schätzt seinen Humor, das war schon<br />
zu Zeiten so, als ein gewisser Horst Seehofer<br />
zusammen mit einem gewissen Sigmar<br />
Gabriel die beiden Lümmel im Kabinett<br />
Merkel gaben. <strong>Die</strong> Kanzlerin hat<br />
etwas übrig für Schlagfertigkeit. Schlagfertig<br />
sind Leute, die schnell im Kopf sind.<br />
Merkel ist sehr schnell im Kopf. Und Gabriel<br />
kann mithalten.<br />
DER VIERTE SATZ, der mit der Verlässlichkeit,<br />
wäre ihr bis vor kurzem nicht so<br />
leicht über die Lippen gekommen. Aber<br />
sie hat in den Wochen auf dem Weg zur<br />
zweiten Großen Koalition unter ihrer<br />
Führung eine neue Erfahrung mit Gabriel<br />
gemacht. Direkt nach der gescheiterten<br />
Sondierung mit den Grünen trafen<br />
sich die beiden im Kanzleramt. Diskret.<br />
Niemand erfuhr von dem Termin. Anders<br />
als bei Guttenberg, der Anfang November<br />
bei seinem Besuch im Kanzleramt<br />
auch in diesen Tagen dafür sorgte,<br />
dass die Presse am Tor bereitstand.<br />
Gabriel <strong>und</strong> Merkel führten ein kompaktes<br />
Gespräch, kaum eine St<strong>und</strong>e lang.<br />
Vier Punkte hatte er ihr genannt, die für<br />
die SPD essenziell seien: der Min<strong>des</strong>tlohn,<br />
die Rente mit 63, die doppelte<br />
Staatsbürgerschaft, die Mietpreisbremse.<br />
Das müsse sie wissen. Klare Kante.<br />
Später, als es in den Verhandlungen<br />
holprig wurde <strong>und</strong> manche Sozialdemokraten<br />
immer mehr forderten, da beruhigte<br />
Merkel ihre empörten Vertrauten.<br />
Gabriel habe den vereinbarten Korridor<br />
nicht verlassen, das sei entscheidend.<br />
Da erwies er sich erstmals als<br />
verlässlich.<br />
Manche im Kanzleramt sagen, Gabriel<br />
habe Merkel genau studiert zu der<br />
Zeit, als er in ihrem Kabinett saß, gerade<br />
noch reingerutscht <strong>und</strong> zurückgekehrt<br />
auf die politische Bühne nach seinem Aus<br />
als Ministerpräisdent von Niedersachsen.<br />
Er habe viel bei ihr gelernt. Oder sich abgeschaut.<br />
So weit das bei seinem gr<strong>und</strong>unterschiedlichen<br />
Temperament möglich<br />
ist. Und er werde weiter von ihr lernen.<br />
Zu viel aber, setzt jemand aus ihrem Lager<br />
kess hinzu, dürfe sie ihm auch nicht<br />
verraten, nicht alle Tricks.<br />
Gabriel wird Merkels Herausforderer<br />
sein bei der nächsten Wahl, davon gehen<br />
zurzeit alle fest aus. Merkel hat Gr<strong>und</strong>,<br />
ihn ernst zu nehmen. Er agiert in diesen<br />
Wochen <strong>und</strong> Monaten sehr sicher. Unter<br />
Druck läuft er zur ganzen Form auf. Er<br />
ist kein Trainingsweltmeister, sondern<br />
ein Turnierspieler. Das hat sie damals<br />
mit Freude beobachtet, als Gabriel im<br />
Dezember 2007 bei der Klimakonferenz<br />
in Bali 36 St<strong>und</strong>en fehlerfrei durchverhandelte.<br />
Sie kennt diese Klimakonferenzen<br />
als ehemalige Umweltministerin, <strong>und</strong><br />
sie weiß: Sie schulen ungemein.<br />
Drei Monate dauerte der Bann, den<br />
sie über Gabriel nach der Indiskretion mit<br />
der SMS verhängt hatte. <strong>Die</strong> Wende kam<br />
im September 2010. Es war eine Geste,<br />
ein handgeschriebener, persönlich gehaltener<br />
Brief, den Gabriel Merkel nach dem<br />
Tod ihres Vaters geschrieben hat. Über<br />
den Inhalt ist nichts zu erfahren. Nur so<br />
viel: Der Brief hat sie erreicht, nicht nur<br />
physisch als beschriebenes Stück Papier.<br />
CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />
ist Chefredakteur von <strong>Cicero</strong>.<br />
Er denkt gern mit dem Bauch