Cicero Die 100 Auf- und Absteiger des Jahres (Vorschau)
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BERLINER REPUBLIK<br />
Fotoessay<br />
Radfahrerbox, Bonn<br />
2010 hat die Stadt „Verrichtungsboxen“<br />
aufgestellt. <strong>Die</strong> Straßenprostitution soll nicht<br />
an abgelegenen Orten stattfinden, aber auch<br />
die Anwohner nicht belästigen<br />
In Deutschland gilt eines der liberalsten Prostitutionsgesetze<br />
weltweit. Beschlossen hat es 2001 die<br />
rot-grüne B<strong>und</strong>esregierung. <strong>Die</strong> Idee: Wenn sich<br />
käuflicher Sex schon nicht aus der Gesellschaft verbannen<br />
lässt, sollen die Prostituierten wenigstens aus<br />
den Grauzonen der Kriminalität herausgeholt werden.<br />
Seit 2002 können Sexarbeiterinnen ihren Lohn gerichtlich<br />
einklagen <strong>und</strong> in die Kranken-, Renten- <strong>und</strong><br />
Arbeitslosenversicherung aufgenommen werden. Das<br />
blieb ihnen davor verwehrt. Zwar ist die Ausübung<br />
der Prostitution in Deutschland seit 1927 nicht mehr<br />
verboten, sie galt jedoch als sittenwidrig. <strong>Die</strong> Prostituierten<br />
waren weitgehend rechtlos. Weder besaßen<br />
sie einen Rechtsanspruch auf das mit dem K<strong>und</strong>en vereinbarte<br />
Entgelt, noch konnten sie rechtswirksame Arbeitsverträge<br />
abschließen.<br />
Geändert hat sich auch die Lage für Bordelle. Vor<br />
2002 erfüllte alles, was über die reine Zimmervermietung<br />
hinausging, den Straftatbestand der „Förderung<br />
der Prostitution“. Heute sind Bordelle gr<strong>und</strong>sätzlich erlaubt.<br />
Probleme mit den Behörden bekommt ein Betreiber<br />
nur, wenn ihm etwa nachgewiesen werden kann,<br />
dass eine Prostituierte materiell von ihm abhängig ist,<br />
dass er sie überwacht oder sie davon abhält auszusteigen.<br />
Denn das ist nach wie vor Zuhälterei. Allerdings<br />
klagen die Behörden darüber, dass Bordelle ohne Konzessionen<br />
betrieben werden dürften, weshalb es für sie<br />
keine <strong>Auf</strong>lagen oder Kontrollen gebe.<br />
Seit der Gesetzesänderung boomt das Sexgeschäft.<br />
Freier aus aller Welt betrachten einige deutsche<br />
Großstädte als Rotlichtviertel Europas. Größere Bordelle<br />
locken mit billigen „Flatrate Sex“-Angeboten, bei<br />
der Freier für einen bestimmten Betrag mit so vielen<br />
Frauen ins Bett gehen können, wie sie möchten. Das<br />
Statistische B<strong>und</strong>esamt schätzt den Umsatz <strong>des</strong> Gewerbes<br />
im Inland auf fast 15 Milliarden Euro im Jahr. Nach<br />
einer im Januar veröffentlichten Studie der EU-Kommission<br />
vergrößert eine Legalisierung von Prostitution<br />
generell die Nachfrage. Und mehr Nachfrage bedeute<br />
automatisch: mehr illegal eingeschleuste Prostituierte.<br />
In den Koalitionsverhandlungen haben Union <strong>und</strong><br />
SPD vereinbart, das Thema anzugehen. Ein generelles<br />
Sexkauf-Verbot wie in Schweden <strong>und</strong> wie es die Frauenrechtlerin<br />
Alice Schwarzer verlangt, ist jedoch nicht geplant.<br />
In Frankreich ist gerade ein Gesetz auf dem Weg,<br />
nach dem Freier mit einer Geldstrafe von 1500 Euro<br />
belangt werden können. Im Berliner Koalitionsvertrag<br />
heißt es: „Wir wollen Frauen vor Menschenhandel <strong>und</strong><br />
Zwangsprostitution besser schützen <strong>und</strong> die Täter konsequenter<br />
bestrafen.“ Geplant sind Strafen für Freier, wenn<br />
sie <strong>Die</strong>nste von Zwangsprostituierten in Anspruch nehmen.<br />
Voraussetzung aber ist, dass die Freier „wissentlich<br />
<strong>und</strong> willentlich“ die Zwangslage von Prostituierten<br />
ausnutzen. Das wird im Einzelfall schwer zu beweisen<br />
sein, aber die CDU setzt auf einen Abschreckungseffekt.<br />
Auch sollen die Behörden Bordelle leichter kontrollieren<br />
können <strong>und</strong> die Rechte von Opfern der Zwangsprostitution<br />
gestärkt werden. <strong>Die</strong> Täter sollen leichter verurteilt<br />
werden können, nämlich auch dann, wenn das Opfer<br />
nicht selbst vor Gericht aussagt. Katharina Dippold<br />
Wohnwagen, Köln<br />
Um die Lage der Straßenprostituierten zu<br />
verbessern, wies die Stadt ein Gelände aus –<br />
mit Verrichtungsboxen <strong>und</strong> Waschräumen.<br />
Sozialarbeiterinnen sind ebenfalls dort<br />
Fotos: Katharina Bosse/Laif (Seiten 66 bis 74)<br />
74<br />
<strong>Cicero</strong> – 1. 2014