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Cicero Die 100 Auf- und Absteiger des Jahres (Vorschau)

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Illustrationen: Sebastian Haslauer (Seiten 82 bis 85)<br />

In brütender Hitze schieben sich an<br />

diesem Nachmittag H<strong>und</strong>erte von Menschen<br />

die Promenade im Zentrum von<br />

Disney-Stadt entlang. Es ist ein nicht endender<br />

Strom träger, zum Teil adipöser<br />

Besucher, die meisten haben einen<br />

Liter Cola in der Hand, die Frauen mit<br />

Minnie-Mouse-Haarreif.<br />

Vielleicht ist es eine Art hypnotischer<br />

Verbannung aus der Wirklichkeit<br />

<strong>des</strong> Alltags, die hier für einen Tag oder<br />

gar mehrere stattfindet. Vielleicht in der<br />

Wirkung wie Chips, die in rauen Mengen<br />

verzehrt werden. Man fühlt sich hinterher<br />

nicht besser, aber man kann es<br />

nicht lassen.<br />

ES GIBT EINEN ORT IN FLORIDA, an dem<br />

es seit mehr als 65 Jahren gelingt, die<br />

menschliche Fantasie in Handarbeit zu<br />

bewirtschaften. 80 Meilen westlich von<br />

Disney World fahre ich auf den Parkplatz<br />

<strong>des</strong> Weeki Wachee Spring State<br />

Park, um die letzten lebendigen Meerjungfrauen<br />

zu sehen. Seit 1947 unterhält<br />

der Park seine Besucher mit einer Unterwassershow,<br />

in der Meerjungfrauen<br />

kleine Abenteuer erleben. Gespeist aus<br />

Floridas größter Quelle, die den Weeki-<br />

Wachee-Fluss bildet, bietet der Park ein<br />

Naturschwimmbad, in dem in der Hitze<br />

dieses Morgens etwa <strong>100</strong> Kinder baden.<br />

<strong>Die</strong> meisten erklimmen die Wasserrutsche,<br />

die gemessen an den Disney-Maßstäben<br />

fast niedliche Ausmaße hat, um<br />

sich dann ins klare Wasser zu stürzen.<br />

In dem Park sitzen Familien an Holztischen<br />

im Schatten der Bäume <strong>und</strong> verzehren<br />

ihre mitgebrachten Snacks. <strong>Auf</strong><br />

einem kleinen, etwas altertümlichen<br />

Spielplatz klettern Fünfjährige auf Gerüsten<br />

herum. Ich fühle mich an meine<br />

Kindheit erinnert.<br />

Vor dem Eingang zum Unterwassertheater<br />

hat sich eine Schlange gebildet.<br />

Vielleicht 30 Menschen warten auf den<br />

Einlass zu den Meerjungfrauen. Hinter<br />

mir steht ein Mann, Ende 40, ein kleines<br />

Mädchen an der Hand. Er sei als Kind<br />

bereits hier gewesen, erzählt er, „vor<br />

45 Jahren schon!“ Seitdem habe sich wenig<br />

verändert. Nur leerer sei es geworden.<br />

Warum, frage ich. „Es ist zu mühsam“,<br />

sagt er. „<strong>Die</strong> Leute müssen erst<br />

umständlich herfahren, das kostet Zeit.<br />

Der Park ist zu klein, hat zu wenig zu bieten.“<br />

„Im Vergleich zu Disney World?“,<br />

Einfach immer<br />

die kleine Mickey<br />

an die große<br />

Mickey halten,<br />

<strong>und</strong> schon wird<br />

alles möglich<br />

frage ich. Er sieht mich an, als spräche<br />

ich aus, was man hier nicht mehr benennen<br />

muss. „Disney hat alles an sich gerissen“,<br />

sagt er.<br />

Im Theater hocken wir auf Holzbänken,<br />

im Halbr<strong>und</strong> um die Fensterfront<br />

angeordnet, die noch von blaugrünen<br />

Vorhängen verdeckt ist. Dahinter ahnt<br />

man das Wasser. Links neben mir sitzt<br />

ein dreijähriges Mädchen. Sie hampelt<br />

auf der Bank herum, wirft dabei meinen<br />

Rucksack um <strong>und</strong> fegt meinen Pullover<br />

auf den Boden, um in derselben Bewegung<br />

ihrer älteren Schwester um den<br />

Hals zu fallen. Dann fragt sie mich zum<br />

ersten Mal, wie spät es ist. „15 Minuten<br />

vor zwölf“, sage ich, „noch 15 Minuten,<br />

bis es losgeht.“ Von da an kommt in immer<br />

kürzeren Abständen dieselbe Frage:<br />

„Wie lange noch?“ Ich antworte geduldig.<br />

<strong>Die</strong> Kleine wird mit jedem Mal ungeduldiger.<br />

Rechts neben mir sitzt auch ein<br />

Mädchen, etwas älter, wie in Trance. Ihre<br />

Mutter versucht gelegentlich Kontakt<br />

aufzunehmen, doch das Mädchen starrt<br />

auf den Vorhang, ohne zu reagieren. Als<br />

kurz vor zwölf ein Schwall Luftblasen<br />

mit hörbarem Blubbern hinter dem Vorhang<br />

aufsteigt, sagt sie leise <strong>und</strong> langgezogen<br />

„ohhhh …“ <strong>und</strong> seufzt.<br />

Ich habe inzwischen gefühlte 50 Mal<br />

gesagt, wie viele Minuten es noch bis<br />

zwölf sind, da hebt sich der Vorhang.<br />

Sofort kommt Bewegung ins Auditorium.<br />

Als dann eine Meerjungfrau mit<br />

langem schwarzen Haar <strong>und</strong> noch längerem<br />

roten, gitzernden Seidenschwanz<br />

direkt vor der r<strong>und</strong>gezogenen Scheibe<br />

vorbeischwimmt <strong>und</strong> winkt, bricht sich<br />

die Anspannung <strong>und</strong> kippt in laute Begeisterung.<br />

Wir sehen die Adaption von<br />

Hans Christian Andersens „<strong>Die</strong> kleine<br />

Meerjungfrau“. <strong>Die</strong> Unterwasserdamen<br />

wirbeln durch die Fluten, machen kleine<br />

Kunststückchen, tanzen, drehen Pirouetten,<br />

zwischendurch saugen sie an den<br />

unter Wasser ausgelegten Schläuchen am<br />

Sauerstoff.<br />

Irgendwann fällt ein Anker ins Wasser,<br />

dann ein Prinz, der aber leider wieder<br />

zurück auf sein Schiff muss. <strong>Die</strong> kleine<br />

Meerjungfrau hätte jetzt auch gerne<br />

Beine statt <strong>des</strong> Meerjungfrauenschwanzes<br />

<strong>und</strong> fragt den Frosch, wie sie das machen<br />

soll. Der verweist sie an die Meereshexe,<br />

die natürlich Böses im Schilde<br />

führt <strong>und</strong> gegen Ende der Vorstellung<br />

85<br />

<strong>Cicero</strong> – 1. 2014

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