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Cicero Die 100 Auf- und Absteiger des Jahres (Vorschau)

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eines vergötterten Marktes“ nennt er die herrschenden kapitalistischen<br />

Verhältnisse.<br />

Und wie reagieren die Leib- <strong>und</strong> Liebediener eben jenes<br />

unfehlbaren Marktes? „Der Papst irrt“, erklärt Marc Beise mit<br />

kühnem Gestus in der Süddeutschen Zeitung. In der Frankfurter<br />

Allgemeinen Sonntagszeitung zeiht Rainer Hank den katholischen<br />

Oberhirten erbittert der „spätmarxistischen“ Theologie.<br />

Verständlich, dass jetzt in den Wirtschaftsredaktionen der<br />

Teufel los ist. Hat man doch über Jahre <strong>und</strong> Jahrzehnte die Segnungen<br />

<strong>des</strong> Marktes gepredigt, hat man doch Tag für Tag der<br />

unsichtbaren Hand <strong>des</strong> Marktes gehuldigt, hat man doch das<br />

Heil beschworen für <strong>und</strong> für, das anbrechen werde von Ewigkeit<br />

zu Ewigkeit, wenn dereinst den Geboten <strong>des</strong> Marktgottes<br />

Genüge getan werde.<br />

Und nun dies: Ein Antikapitalist auf dem Stuhle Petri!<br />

So jedenfalls belieben die Wortführer der Marktgläubigen<br />

zu behaupten. In der Welt unterschiebt die stellvertretende<br />

Chefredakteurin Andrea Seibel dem Papst die Sentenz:<br />

„Kapitalismus tötet“, als Zitat wohlgemerkt, in Anführungszeichen.<br />

Und Seibel rüffelt den Papst: „Franziskus hätte den<br />

Satz besser nicht gesagt.“<br />

Er hat den Satz auch nicht gesagt. Im päpstlichen „Evangelii<br />

Gaudium“ ist die Passage nicht zu finden. Dort lautet die<br />

Formulierung: „<strong>Die</strong>se Wirtschaft tötet.“<br />

Mit dem Satz meint der Papst ausdrücklich den Marktradikalismus<br />

– nicht etwa den Kapitalismus als Ganzes.<br />

Auch dies sagt der Papst: „Eine Finanzreform, welche die<br />

Ethik nicht ignoriert, würde einen energischen Wechsel der<br />

Gr<strong>und</strong>einstellung der politischen Führungskräfte erfordern, die<br />

ich aufrufe, diese Herausforderung mit Entschiedenheit <strong>und</strong><br />

Weitblick anzunehmen.“<br />

Finanzreform! Fordert so etwas ein Antikapitalist? Nein, so<br />

etwas fordert ein Reformer. Ein Kapitalismus-Reformer.<br />

Franziskus hat nichts gegen den Kapitalismus. Doch diagnostiziert<br />

er „ein in den Strukturen einer Gesellschaft eingenistetes<br />

Böses“, „ein Potenzial der <strong>Auf</strong>lösung <strong>und</strong> <strong>des</strong> To<strong>des</strong>“.<br />

Deshalb seien die kapitalistischen Strukturen zu ändern – ohne<br />

den Kapitalismus abzuschaffen.<br />

Von seinen Vorgängern unterscheidet sich Franziskus darin<br />

allerdings gr<strong>und</strong>sätzlich. Sie drückten ihr Unbehagen am<br />

Kapitalismus bestenfalls in Appellen aus: <strong>Die</strong> Menschen müssten<br />

sich betend bessern, die wirtschaftlichen Strukturen dagegen<br />

unangetastet bleiben.<br />

Der Argentinier Franziskus hat in der Auseinandersetzung<br />

mit der südamerikanischen Befreiungstheologie gelernt, dass<br />

sich Ausbeutung <strong>und</strong> Armut, Entfremdung <strong>und</strong> Elend nicht<br />

durch einen Exorzismus der „Gier nach Macht <strong>und</strong> Besitz“ beseitigen<br />

lassen. Sondern nur durch die Veränderung <strong>des</strong> ökonomischen<br />

Unterbaus. Per Gesetz.<br />

Ist der Papst <strong>des</strong>halb inkompetent? <strong>Die</strong> Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung hält seine Thesen für „kaum haltbar“. Etwas<br />

anderes war von diesem Osservatore Romano <strong>des</strong> b<strong>und</strong>esdeutschen<br />

Finanz-Vatikans auch gar nicht zu erwarten.<br />

<strong>Die</strong> neoliberalen Kleriker kämpfen mit allen Mitteln um<br />

ihre Deutungshoheit: Sie allein wissen, was Kapitalismus ist –<br />

<strong>und</strong> niemand sonst. Sie allein wissen, was Liberalismus ist –<br />

<strong>und</strong> niemand sonst. Schon gar nicht ein Argentinier in Rom.<br />

Das aber ist gerade das Problem von Kapitalismus <strong>und</strong><br />

Liberalismus: Ihre Prinzipien werden durch einen Pulk von<br />

Politikern, Publizisten <strong>und</strong> Professoren bis zur Perversion<br />

verengt. Alles sei Markt – Markt! Markt! Markt! Wer das einfältige<br />

Dogma zu durchbrechen sucht, ist Häretiker. Und sei<br />

es der Papst.<br />

In Wahrheit ist Kapitalismus ein segensreicher Teil der Demokratie,<br />

die ja unteilbare Freiheit voraussetzt: Denn freies<br />

Wirken als Bürger umfasst auch freies Wirken als autonomes<br />

Wirtschaftssubjekt, mit eigenem Besitz, mit eigenen materiellen<br />

Mitteln, immer eingeb<strong>und</strong>en allerdings in eine gesellschaftliche<br />

Verantwortung, also nicht außer- oder gar oberhalb der<br />

Demokratie, vielmehr der Gestaltung durch die demokratische<br />

Politik unterworfen.<br />

Ähnlich umfassend wäre die Kultur <strong>des</strong> echten Liberalismus<br />

zu verstehen, die als Gesellschaftsentwurf – <strong>und</strong> eben<br />

nicht allein als Wirtschaftsentwurf! – stets auch soziale Solidarität<br />

bedeutet.<br />

Wie sagt es der Papst? „Das Geld muss dienen <strong>und</strong> nicht<br />

regieren!“<br />

Der Marktradikalismus dagegen erniedrigt den Menschen<br />

zum „homo oeconomicus“, zu „human resources“, zum Rohstoff<br />

Mensch: zum Rohstoffmenschen – zum Objekt von Markt<br />

<strong>und</strong> Wirtschaftsmacht.<br />

„Evangelii Gaudium“ verurteilt diese „Degradierung der<br />

Person“ mit den Worten: „Der Mensch an sich wird wie ein<br />

Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen <strong>und</strong> dann wegwerfen<br />

kann.“<br />

Der Bischof von Rom predigt damit gegen die brutale Dogmatik<br />

<strong>des</strong> herrschenden Markt-Mystizismus an, wonach der<br />

Mensch sich in einem nie endenden Überlebenskampf zu bewähren<br />

<strong>und</strong> durchzusetzen habe – schafft er das nicht, wird er<br />

als Sozialmüll entsorgt. Ja, er verliert sogar, nach der bigotten<br />

Interpretation von Hayeks, das Anrecht, ein wahl- <strong>und</strong> stimmfähiger<br />

Bürger zu sein.<br />

Der Neoliberalismus spielt dabei unverfroren mit faschistoiden<br />

Kategorien: das Leben als Kampf, als Krieg, als Wirtschaftskrieg;<br />

Ausmerzen alles Unterlegenen, alles ökonomisch<br />

Besiegten; Verachtung alles Schwachen; Anbetung alles Starken;<br />

Degradierung der Demokratie zum „Fetisch“; Hass auf den<br />

bürgerlichen Staat; Usurpation von Staatsmacht durch Wirtschaftsmacht;<br />

Herrschaft über ökonomische Imperien; schließlich<br />

Neofeudalismus statt Bürgergleichheit.<br />

Franziskus weiß, wovon er spricht. Er zitiert sogar die<br />

marktradikale Trickle-down-Theorie, derzufolge vom Tisch<br />

der Reichen stets etwas hinabtropfe zum Segen derer ganz<br />

unten: „<strong>Die</strong>se Ansicht, die nie von den Fakten bestätigt wurde,<br />

drückt ein <strong>und</strong>ifferenziertes, naives Vertrauen auf die Güte<br />

derer aus, die die wirtschaftliche Macht in den Händen halten,<br />

wie auch auf die vergötterten Mechanismen <strong>des</strong> herrschenden<br />

Wirtschaftssystems.“<br />

Dem Stellvertreter in Rom geht es um die Glaubensfrage<br />

dieser Zeit: Welchen Kapitalismus wollen wir?<br />

<strong>Die</strong> Fratze? Oder das menschliche Antlitz?<br />

FRANK A. MEYER ist Journalist <strong>und</strong> Gastgeber der politischen<br />

Sendung „Vis-à-vis“ in 3sat<br />

57<br />

<strong>Cicero</strong> – 1. 2014

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