Cicero Die 100 Auf- und Absteiger des Jahres (Vorschau)
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BERLINER REPUBLIK<br />
Porträt<br />
abgestimmt wurde, es war schon weit<br />
nach Mitternacht <strong>und</strong> alle Argumente waren<br />
ausgetauscht, stimmten 147 Genossen<br />
für <strong>und</strong> 143 gegen die Linie <strong>des</strong> Parteivorstands.<br />
So knapp war bis dahin noch<br />
nie eine Gr<strong>und</strong>satzentscheidung in der<br />
Nachkriegs-SPD ausgefallen. Gleichwohl<br />
deutete Brandts Stellvertreter Helmut<br />
Schmidt den knappen Sieg der Parteiführung<br />
später im Vorwärts etwas voreilig<br />
als das Ende aller Debatten: „<strong>Die</strong>se Beschlüsse<br />
bedeuten das Ende der Diskussion<br />
<strong>und</strong> nach guter sozialdemokratischer<br />
Tradition folgt auf die Vielfalt der Diskussion<br />
die Einheit der Aktion.“<br />
Dass die Abstimmung so knapp ausfiel,<br />
lag einerseits an dem Antragstext,<br />
den der Vorstand vorgelegt hatte. Zum<br />
anderen an eingefleischten Parteitagsritualen:<br />
Es war damals bei der SPD nicht<br />
üblich, Anträge schon am zweiten Versammlungstag<br />
zu beraten, geschweige<br />
denn, darüber abzustimmen. Auch wollten<br />
sich die Gegner der Großen Koalition<br />
nicht zwingen lassen, im Nachhinein etwas<br />
zu billigen, das längst vollzogen <strong>und</strong><br />
nicht mehr zu ändern war.<br />
Dabei bestand der Antrag im Prinzip<br />
nur aus einem Satz. Aber der war mit<br />
derartig vielen Punkten <strong>und</strong> Unterpunkten<br />
befrachtet, die ihrerseits wieder in<br />
a, b, c, <strong>und</strong> d aufgeteilt worden waren,<br />
dass kaum einer im Saal <strong>und</strong> schon gar<br />
nicht auf den Presseplätzen verstand,<br />
welcher Punkt wichtig oder unwichtig<br />
war. Es vermochte auch niemand einleuchtend<br />
zu erklären. <strong>Die</strong> Delegierten<br />
durften nicht etwa über den einfachen<br />
Satz abstimmen: „Der Parteitag billigt<br />
die Entscheidung, in die Große Koalition<br />
einzutreten.“ Sie mussten vielmehr<br />
über verschiedenen <strong>und</strong> zum Teil sich widersprechenden<br />
Passagen eines Textes<br />
brüten, der insgesamt min<strong>des</strong>tens drei<br />
Schreibmaschinenseiten umfasste.<br />
HERBERT WEHNER versuchte, es zu erklären.<br />
Der Antrag war ein Wortungetüm,<br />
das vermutlich er selbst geschaffen<br />
hatte – verschachtelt, wie eine Wehner-<br />
Rede im Parlament. Man musste geduldig<br />
sein <strong>und</strong> genau zuhören, um dem Redefluss<br />
dieses Wortgewaltigen – über die<br />
unzähligen Klippen <strong>und</strong> Abgründe – zu<br />
folgen, bis alles wieder zusammenfloss<br />
<strong>und</strong> endlich einen Sinn ergab. Nie verlor<br />
er in seinen Schachtelsätzen den roten<br />
Nürnberg 1968. Vor dem<br />
SPD‐Parteitag muss sich Willy<br />
Brandt durchs Gedränge wühlen.<br />
Aber er gewinnt die Abstimmung<br />
über die Große Koalition, in der<br />
er sich als Vizekanzler profiliert<br />
Bonn 1969. Willy Brandt wird als<br />
erster sozialdemo kratischer B<strong>und</strong>eskanzler<br />
vereidigt. <strong>Die</strong> Große<br />
Koalition war sein Sprungbrett<br />
Berlin 2013. Sigmar Gabriel neben<br />
der Willy-Brandt-Skulptur in der<br />
Parteizentrale. Was macht er aus<br />
der Großen Koalition?<br />
Faden, aber er ließ seine Zuhörer warten.<br />
Auch diesmal drang er erst am Ende<br />
zum Kern vor: „Es ist nicht ein Bekenntnis<br />
– wie man heute so oft hört – zur Großen<br />
Koalition schlechthin oder gegen die<br />
Große Koalition schlechthin oder überhaupt,<br />
das hier abzulegen wäre. Hier geht<br />
es nicht um Akklamation. Es geht einfach<br />
darum, dass Parteivorstand, Parteirat<br />
<strong>und</strong> B<strong>und</strong>estagsfraktion das Urteil<br />
<strong>des</strong> Parteitags brauchen, damit sie wissen,<br />
wie sie weiterzuarbeiten haben.“<br />
Mitmachen, Weichen stellen, nicht<br />
abseitsstehen, den Konservativen nicht<br />
den Staat überlassen – das waren schon<br />
1968 die Motive der Befürworter. <strong>Die</strong><br />
Zeiten haben sich geändert. <strong>Die</strong> Argumente<br />
sind die gleichen geblieben.<br />
Brandts Plädoyer <strong>und</strong> die Art, wie er<br />
es vortrug, entsprachen der damaligen<br />
Lage. Noch nie hatte die SPD nach dem<br />
Krieg regiert. Noch nie hatte sie beweisen<br />
können, dass sie regieren kann. <strong>Die</strong>sen<br />
Nachweis muss die SPD heute nicht<br />
mehr liefern. Sie hat bewiesen, dass sie<br />
es kann. Deshalb taucht dieser Aspekt in<br />
den Reden Gabriels nicht mehr auf.<br />
Aber es gibt andere Konstanten.<br />
Ähnlich wie Brandt trägt auch Gabriel<br />
seine Überzeugungen gern in der Frageform<br />
vor, weniger im Imperativ. Wie<br />
Brandt gewinnt er in der Pose <strong>des</strong> Fragenden,<br />
Nachdenklichen mehr Zustimmung<br />
als in der Rolle <strong>des</strong> Basta-Vorsitzenden.<br />
Vielleicht hat er es dem großen<br />
Vorsitzenden abgeguckt. Vielleicht entspricht<br />
es seinem Naturell.<br />
Brandt näherte sich zum Beispiel in<br />
seiner Parteitagsrede auch der Jugendrevolte<br />
als ein Fragender: „Woher kommen<br />
die irrationalen Erscheinungen <strong>und</strong> doch<br />
wohl neuartigen Spannungen, die wir<br />
nicht nur gegenüber dem Staat, sondern<br />
auch gegenüber der Partei <strong>und</strong> manchmal<br />
auch innerhalb der Partei erleben? Warum<br />
haben wir beispielsweise bestimmte<br />
Entwicklungen in der jungen Generation<br />
nicht früher <strong>und</strong> zutreffend erkannt?“<br />
Das waren andere, neue Töne, die<br />
Verständnis <strong>und</strong> Verständigungsbereitschaft<br />
signalisierten – damals keine<br />
Selbstverständlichkeit. Aber mit jener<br />
Rede gewann Brandt letztlich die Partei<br />
für die Große Koalition, knapp, aber<br />
Mehrheit ist Mehrheit.<br />
<strong>Die</strong> „kleinen Leute“, die Gabriel heute<br />
als die Nutznießer seiner Pläne beschwört,<br />
Fotos: Darchinger Archiv/Friedrich-Ebert-Stiftung, AKG Images, Reynaldo Paganelli<br />
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<strong>Cicero</strong> – 1. 2014