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Gesellschaft<br />
Wie fühlt sich denn das an?<br />
Auf einmal bist du 75! Das hat sich wohl schon länger<br />
angebahnt, aber trotzdem stehst du plötzlich da<br />
mit dieser abstrakten Zahl und musst dich damit<br />
auseinandersetzen. Laut Statistik bist du jetzt stärker Demenz<br />
gefährdet und außerdem solltest du überprüfen lassen,<br />
ob du noch fahrtauglich bist, weil du ja abbaust. „Wenn<br />
du nicht mehr Autofahren kannst, dann bist du wirklich alt“,<br />
meint ein Bekannter von mir. Und das geht so weiter: Die<br />
75 als Schallgrenze für allgemeine Lebenstauglichkeit, das<br />
ist starker Tobak und eine gewaltige Herausforderung.<br />
Foto: Rita Petri<br />
„Nein“, so der freundliche Kommentar wohlmeinender<br />
Mitmenschen „ das hätte ich jetzt nicht gedacht, so alt wirkst<br />
Du doch gar nicht!“ „Dann schau doch mal genau hin“, ist<br />
in der Regel meine Antwort. „Ja, aber…“ und ich überlege<br />
schon: Ist das jetzt ein Kompliment oder bin ich vielleicht in<br />
meiner Entwicklung stehen geblieben? Der Spiegel schönt<br />
nichts. Die Entschleunigung meiner Bewegungen und Gedanken<br />
ist nicht zu übersehen, und die diversen anderen<br />
Defizite sind auch immer schlechter zu vertuschen. Die 75<br />
Lebensjahre sind nicht weg zu diskutieren!<br />
Mir kommt ein etwas merkwürdiger Vergleich in den<br />
Sinn: das Altwerden und die Pubertät. In beiden Lebensphasen<br />
verändert sich der eigene Körper spürbar und auch<br />
für alle sichtbar, nur Geist und Seele sind nicht auf gleicher<br />
Höhe. Sie hinken oft noch hinterher. Das fühlt sich gar nicht<br />
gut an, weder im Alter noch in der Jugend. Der Unterschied:<br />
Die Jugend startet durch in eine verheißungsvolle, erwachsene<br />
Zukunft – und das Alter? Wo führt das hin? Da versucht<br />
man eher stehen zu bleiben und den „Fortschritt“ so<br />
lange wie möglich hinauszuzögern.<br />
Wir Alten haben den größten Teil dieser „verheißungsvollen<br />
Zukunft“ bereits gelebt, mit allen Höhen und Tiefen.<br />
Die Einen schauen zufrieden zurück, andere eher unzufrieden,<br />
wenn nicht gar verbittert. Das ist der Stand der Dinge.<br />
Doch nun, wie das Kaninchen auf die bewusste Schlange,<br />
nur noch auf das sich unweigerlich nähernde Ende zu<br />
starren, das ist eine unverzeihliche Vergeudung der noch<br />
geschenkten Lebenszeit! Das geht gar nicht.<br />
Aber wie fühlt sich das Leben nun an mit 75, mit all<br />
den kleinen und auch größeren Einschränkungen im Alltag,<br />
gesundheitlich und finanziell? Schmälern sie nicht meine<br />
angebliche „Lebensqualität“? Müsste ich mich deshalb<br />
nicht schlecht fühlen? Sie scheint ja gut gemeint, die Sorge<br />
um diese Lebensqualität. Aber wer setzt den Maßstab? Was<br />
wird mir da eingeredet? Es ist ein fragwürdiger Begriff. Ich<br />
will mich nicht ständig darum kümmern, wie ich mich mit<br />
meinen Defiziten wieder auf das Niveau einer 60- oder gar<br />
50-Jährigen bringe. Das funktioniert nicht. Das bedeutet<br />
Stress. Andere verdienen sich eine goldene Nase an den Bemühungen<br />
der „Silveraged-Generation“ vermeintlich mehr<br />
Lebensqualität zu schaffen. Ungeachtet dessen ist dieser<br />
Begriff eine bekloppte Verniedlichung.<br />
„Don’t cry over spilled milk!“ – „Weine nicht über<br />
verschüttete Milch!“ Ein mir lieb gewordenes britisches<br />
Sprichwort. Was nicht mehr zu retten ist, aufgeben, Vergangenes<br />
loslassen und sich Neuem zuwenden. Diese<br />
Ratschläge sind nicht neu. Nein, ich gebe nicht sofort<br />
auf, wenn sich neue Probleme zeigen. Da nehme ich<br />
gerne die segensreichen Möglichkeiten der modernen<br />
Medizin in Anspruch: Meine neue Hüfte schenkt mir<br />
fast die alte Beweglichkeit zurück. Natürlich nehme ich<br />
44 durchblick 2/<strong>2016</strong>