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Buchvorstellung<br />
Dorf mit Krone<br />
Warum fuhren in den fünfziger Jahren Jauchewagen<br />
in Siegen herum, auf denen der Besitzer sei-<br />
über die Weidenauer<br />
finden sich Berichte<br />
ne Telefonnummer in großen Lettern vermerkt Hammerschmiede und<br />
hatte (Die Nummer lautete 4711)?<br />
ihre Ess- und Trinkgewohnheiten,<br />
Und warum nur hatte man die Krypta des alten Klosters<br />
über<br />
abgerissen, wo sie doch, direkt neben dem Unteren Schloss, Kräuterweiblein (und<br />
ein Touristenmagnet hätte werden können? Warum durften die manchmal auch ihre<br />
Fußballer der Siegerländer Auswahl nicht am Bankett mit der Rezepte), Schwänke<br />
Weltmeistermannschaft von 1974 teilnehmen, nachdem sie und Dönekes zuhauf.<br />
sich den Beckenbauers, Breitners und Hölzenbeins im Leimbachstadion<br />
Spannend zu lesen,<br />
geschlagen geben musste?<br />
streng historisch mit<br />
Heute berät man sich gelegentlich beim Bier darüber, Vorsicht zu genießen.<br />
was vor dreißig oder vierzig Jahren in Siegen losgewesen Schließlich weiß man<br />
sein muss. Man erinnert sich an seine eigenen Erfahrungen selten, mit welcher<br />
beim Tanz für die Jugend in der Siegerlandhalle (in der Absicht der jeweilige Autor seinen Beitrag geschrieben hat,<br />
Regel hatten sie etwas mit Knutschen oder alternativ verschüchtertem<br />
und was er weggelassen oder hinzugedichtet hat. Das ist heute<br />
Herumstehen zu tun. Man hatte ja noch kein auch nicht anders, wenn man weiß, aus welchen Beweggrün-<br />
Internet, um sich über die einschlägigen Taktiken auszutauschen).<br />
den Historiker dieses oder jenes schreiben oder auch nicht.<br />
Schöne Erinnerungen pflegt man auch, was die Die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg zum Beispiel rückt<br />
Kneipenbesuche in damaligen Kult-Etablissements angeht. gerade erst in den Fokus der Geschichtsinteressierten. Dabei<br />
Da gab es die Wendel Stuben, die etwas verruchtere Alternative<br />
gibt es vieles (neu) zu entdecken. Die Geschichte der Straßen<br />
zu den Milchbars im Weidenauer Hallenbad. Man in Siegen hat bereits einige Enthusiasten gefunden, die Eisen-<br />
ging auch gerne in das Cafe Ehlen am Bahnhof, oder in das bahngeschichte sowieso. Aber wer erinnert sich heute noch<br />
nicht weit entfernt gelegene Cafe Harr. Man erinnert sich daran, dass es einmal ein echtes Verkehrshindernis auf der<br />
aber in der Regel wirklich gerne, weil es mit der Erinnerung Sandstraße gab, ein Haus, das genau da stand, wo die Straße<br />
so eine Sache ist: Je weiter der Schulbesuch in der Vergangenheit<br />
verbreitert werden wollte, nämlich genau am Kölner Tor. Und<br />
liegt, desto mehr verklärt sich die Erinnerung, die welche Auseinandersetzungen gab es um den Rubenspreis, als<br />
doch einmal recht unangenehm gewesen sein mag. er gerade erst geboren war, und die Siegener noch so konservativ?<br />
Das Buch beginnt seinen Streifzug durch die Siegener<br />
Schön wäre es auch, intensivere Forschungen über den<br />
Nachkriegszeit mit Ernst Bach, jenem durchaus volkstümlichen<br />
Hintergrund der evangelisch-katholischen Beziehungen zu le-<br />
Siegener Bürgermeister, der es nicht mochte, Socken sen, die sich schließlich noch bis weit in die Nachkriegszeit in<br />
zu tragen, und der deshalb gerne schon mal barfuß aus dem Kloppereien zwischen katholischen und evangelischen Jungs<br />
Mercedes stieg. Der Faden spinnt sich weiter über jene bereits äußerten, und in Hinweisen in den Akten des Kirchenkreises<br />
erwähnte anrüchige Telefonnummer und ihre juristischen Folgen<br />
auf die „römische Sekte“.<br />
bis zu Walter Helsper. Helsper? Der mit dem Hut. Der das „Dorf mit Krone“ ist ein Geschichtenband, der diesen hi-<br />
Happening nach Siegen brachte und den Zeitzeugen, damals storischen Anspruch nicht stellt. Er bietet aber den Anreiz,<br />
in der Bahnhofstraße, ein bleibendes Erlebnis verschaffte. sich bewusst auch mit eigener Geschichte auseinanderzusetzen.<br />
Als er verstarb, trauerte Kultur-Siegen. Aber vergessen<br />
Man entdeckt: Es ist alles schon mal dagewesen. Ob<br />
wird er alleine schon deshalb nicht, weil er im öffentlichen Migranten (die ersten kamen Mitte des 19. Jahrhunderts mit<br />
Bild Spuren hinterlassen hat. Manch eine Hauswand hat der dem Tunnelbau aus Italien und Kroatien, ihre Nachkommen<br />
Mann mit dem Hut bemalt. Und manche seiner Erinnerungen sprechen heute Siegerländer Platt), Flüchtlinge (die am Wellersberg<br />
erkennt der nicht eingeweihte Betrachter gar nicht als Helsper.<br />
untergebracht wurden und in Siegen nicht immer auf<br />
Dass sich heute so viele Menschen mit ihrer eigenen Geschichte<br />
freundliche Aufnahme stießen) oder ausländische Gastwirte<br />
auseinandersetzen und oft geradezu brennend für Lo-<br />
(wer kennt noch das „Fäßchen“?). Und man überlegt: Wie war<br />
kal- und Regionalgeschichte interessieren, ist ein Phänomen. denn die Luft in Siegen zur Hauptverkehrszeit, als der Rasende<br />
Die einschlägigen Gruppen bei Facebook sprechen eine klare<br />
Roland zwischen Autos umherfuhr, die vom Katalysator<br />
Sprache. Ganz neu ist die Heimatliebe aber nicht. Die frühen noch so weit entfernt waren wie die Haubergsgenossen von<br />
Ausgaben der Zeitschrift „Siegerland“ und andere heimatgeschichtliche<br />
der Benzinkettensäge. War das so? Und: Wie habe ich selber<br />
Produkte wimmeln geradezu von Berichten über das alles erlebt?<br />
die Zeit von vor fünfzig Jahren – heißt also aus damaliger Perspektive<br />
Erinnerung, das weiß man, verklärt sich nicht nur, wenn es<br />
– aus der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Dort um die Schulzeit geht. <br />
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54 durchblick 2/<strong>2016</strong>