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Essay<br />
Eingequetscht von allen Seiten<br />
Überfordert vom Alltag, eingequetscht von allen<br />
Seiten. Was hilft uns, sich nicht wie ein hilfloses<br />
Opfer zu fühlen? Wie ist das mit dem Weg zu sich<br />
selbst, was führt einen dorthin? Wenn man auf der Suche<br />
nach sich selbst ist, so kann das auch ohne ein äußerlich<br />
einschneidendes, bemerkenswertes Ereignis recht schmerzhaft<br />
sein. Immer ist es mit Wandel und Veränderung verbunden.<br />
Einsichten, die erworben werden müssen, fallen<br />
einem nicht in den Schoß. Man ahnt, dass es falsch ist,<br />
die persönliche Unflexibilität äußeren Bedingungen zuzuschieben.<br />
Man muss den Gedanken zulassen, dass eine<br />
gewisse Erstarrung mit der eigenen, grundsätzlichen Haltung<br />
zusammenhängen könnte. Stimmt meine Sicht auf die<br />
Dinge und mein Umgang damit? Wie ist Wandlung, wie ist<br />
Neuorientierung möglich?<br />
Als ich vor Tagen im Krankenhaus sein musste, erlebte<br />
ich mit unglaublicher Wucht, was Veränderung, Wandel,<br />
verbunden mit Flucht und Vertreibung anrichtet. Da war<br />
Fahad, ein junger Mann, der mit unklarem Krankheitsbild<br />
ein Bett in unserem Zimmer zugewiesen bekam. Er war<br />
geflüchtet vor dem Krieg im Irak. Er sprach kein Deutsch,<br />
wenig Englisch. Er war verunsichert, plötzlich mit zwei<br />
älteren Herren in einem Zimmer zu sein. Eigentlich sprach<br />
er gar nicht und vermied Blickkontakt. Seine Tasche<br />
packte er nicht aus, schlief zwei Nächte angezogen. Im<br />
Schlaf, ja, da sprach er wohl, was wir aber nicht verstanden.<br />
Offenbar ist er stark traumatisiert. Morgens geht er<br />
um acht Uhr aus dem Zimmer und kommt erst abends<br />
wieder, zum Schlafen. Am dritten Morgen bleibt er auf der<br />
Bettkante sitzen. Ich begrüße ihn mit seinem Namen und<br />
Hallo Good Morning. Er lächelt zurück und sagt Hallo.<br />
Und dann passiert etwas sehr schönes. Er schaut zu uns<br />
auf und zeigt zum Bad. Wir nicken eifrig und freuen uns,<br />
dass er ins Bad möchte, bei uns bleiben will und bekräftigen<br />
lächelnd unsere Zustimmung. Von der Reinigungskraft<br />
auf der Station habe ich erfahren, dass Fahad nur<br />
arabisch spricht und, dass er mit seiner Schwester geflüchtet<br />
ist. Wir können nur erahnen, was dieser junge Mensch<br />
bisher in seinem Leben gesehen und erlebt haben musste.<br />
Das Bad ist geflutet, aber wir sind sehr glücklich, unser<br />
„fremder“ Mitbewohner ist nicht mehr so fremd. Wir rufen<br />
erst einmal den Reinigungsdienst.<br />
Fahad bleibt nun auch tagsüber im Zimmer, wir versuchen<br />
uns zu verständigen, die Atmosphäre ist warm.<br />
Er hilft seinem alten Bettnachbarn, die Strümpfe anzuziehen.<br />
Englisch, Deutsch, es klappt irgendwie. Er fragt<br />
nach Fußball. Über Familie will er nicht sprechen, ich<br />
lasse es. Wir erleben hautnah, was ein Trauma ist.<br />
Meine medizinischen Untersuchungen sind noch nicht<br />
abgeschlossen. Ich erhalte aber übers Wochenende Tages-<br />
ausgang. Bei meiner Rückkehr am Samstag Abend erfahre<br />
ich von der Schwester, dass Fahad viel geweint hat. Als wir<br />
uns begrüßen, lacht er wieder. Es ist seine Seele die verletzt<br />
ist. Er hat keine erkennbaren, körperlichen Schäden, aber<br />
das Pflegepersonal passt auf ihn auf. Bei meiner Entlassung<br />
gebe ich ihm meine Telefonnummer und lade ihn zum Kaffee<br />
ein. Er nickt und seine Augen strahlen. Auch ich bin sehr<br />
froh und fahre entspannt nach Hause.<br />
Plötzlich sind alle „großen“ Probleme etwas kleiner<br />
geworden, die Gewichtung hat sich verschoben. Ich spüre<br />
dass es Wege zur Wandlung gibt, sie sind auch in mir.<br />
Durch den Mangel an kleiner Selbstbeherrschung bröckelt<br />
die Fähigkeit zur großen ab.<br />
Jeder Tag ist schlecht genutzt und eine Gefahr für den nächsten,<br />
an dem man nicht wenigstens einmal sich etwas im kleinen<br />
versagt hat: Diese kleine Entbehrung ist unerlässlich, wenn<br />
man sich die Freude, sein eigener Herr zu sein, erhalten will.<br />
Nur durch Bedürfnisse bin ich eingeschränkt - oder einschränkbar.<br />
Betrachten wir uns in jeder Lage des Lebens, so finden<br />
wir, dass wir äußerlich bedingt sind, vom ersten Atemzug bis<br />
zum letzten; dass uns aber jedoch die höchste Freiheit übrig<br />
geblieben ist, uns innerhalb unserer selbst dergestalt auszubilden,<br />
dass wir uns mit der sittlichen Weltordnung in Einklang<br />
setzen und, was auch für Hindernisse sich hervortun,<br />
dadurch mit uns selbst zum Frieden gelangen können.<br />
Johann Wolfgang von Goethe<br />
Ist eine totale Korrektur erforderlich? Ich glaube das<br />
nicht, aber es ist gut, ein Fenster zu öffnen und frische<br />
Luft herein zu lassen. Es reicht diesmal nicht, nur hinter<br />
der sorgsam gefalteten Gardine die sich verändernde Welt<br />
zu betrachten. Nur so können wir mitgestalten und uns am<br />
Ende vielleicht über ein gelungenes Ergebnis freuen.<br />
So lange wir in einer für uns angemessenen Distanz<br />
zu den Neuankommenden in unserem Land bleiben, so<br />
lange bleibt die diffuse Angst vor dem Unbekannten. Das<br />
ändert sich, wenn wir freiwillig, oder auch unfreiwillig,<br />
den Weg zueinander finden. Und dabei dürfen wir sehr<br />
klar und aufrichtig sagen, wie wir uns das Zusammenleben<br />
vorstellen.<br />
Hat uns die für uns selbstverständliche 70jährige Friedenszeit<br />
zu Egoisten gemacht? Die Willkommenskultur<br />
sagt das Gegenteil, aber eine gewisse Ratlosigkeit in den<br />
Gesichtern unserer Mitmenschen ist oft nicht zu übersehen.<br />
Vielleicht hilft uns die Einsicht, es erst wieder lernen<br />
zu müssen. In der Politik gibt es für uns keine Vorbilder.<br />
Aber die Menschen die zu uns kommen, wollen sich ja in<br />
unser Leben „einmischen“ und nicht in die Politik.<br />
58 durchblick 2/<strong>2016</strong>