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2016-02

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Essay<br />

Eingequetscht von allen Seiten<br />

Überfordert vom Alltag, eingequetscht von allen<br />

Seiten. Was hilft uns, sich nicht wie ein hilfloses<br />

Opfer zu fühlen? Wie ist das mit dem Weg zu sich<br />

selbst, was führt einen dorthin? Wenn man auf der Suche<br />

nach sich selbst ist, so kann das auch ohne ein äußerlich<br />

einschneidendes, bemerkenswertes Ereignis recht schmerzhaft<br />

sein. Immer ist es mit Wandel und Veränderung verbunden.<br />

Einsichten, die erworben werden müssen, fallen<br />

einem nicht in den Schoß. Man ahnt, dass es falsch ist,<br />

die persönliche Unflexibilität äußeren Bedingungen zuzuschieben.<br />

Man muss den Gedanken zulassen, dass eine<br />

gewisse Erstarrung mit der eigenen, grundsätzlichen Haltung<br />

zusammenhängen könnte. Stimmt meine Sicht auf die<br />

Dinge und mein Umgang damit? Wie ist Wandlung, wie ist<br />

Neuorientierung möglich?<br />

Als ich vor Tagen im Krankenhaus sein musste, erlebte<br />

ich mit unglaublicher Wucht, was Veränderung, Wandel,<br />

verbunden mit Flucht und Vertreibung anrichtet. Da war<br />

Fahad, ein junger Mann, der mit unklarem Krankheitsbild<br />

ein Bett in unserem Zimmer zugewiesen bekam. Er war<br />

geflüchtet vor dem Krieg im Irak. Er sprach kein Deutsch,<br />

wenig Englisch. Er war verunsichert, plötzlich mit zwei<br />

älteren Herren in einem Zimmer zu sein. Eigentlich sprach<br />

er gar nicht und vermied Blickkontakt. Seine Tasche<br />

packte er nicht aus, schlief zwei Nächte angezogen. Im<br />

Schlaf, ja, da sprach er wohl, was wir aber nicht verstanden.<br />

Offenbar ist er stark traumatisiert. Morgens geht er<br />

um acht Uhr aus dem Zimmer und kommt erst abends<br />

wieder, zum Schlafen. Am dritten Morgen bleibt er auf der<br />

Bettkante sitzen. Ich begrüße ihn mit seinem Namen und<br />

Hallo Good Morning. Er lächelt zurück und sagt Hallo.<br />

Und dann passiert etwas sehr schönes. Er schaut zu uns<br />

auf und zeigt zum Bad. Wir nicken eifrig und freuen uns,<br />

dass er ins Bad möchte, bei uns bleiben will und bekräftigen<br />

lächelnd unsere Zustimmung. Von der Reinigungskraft<br />

auf der Station habe ich erfahren, dass Fahad nur<br />

arabisch spricht und, dass er mit seiner Schwester geflüchtet<br />

ist. Wir können nur erahnen, was dieser junge Mensch<br />

bisher in seinem Leben gesehen und erlebt haben musste.<br />

Das Bad ist geflutet, aber wir sind sehr glücklich, unser<br />

„fremder“ Mitbewohner ist nicht mehr so fremd. Wir rufen<br />

erst einmal den Reinigungsdienst.<br />

Fahad bleibt nun auch tagsüber im Zimmer, wir versuchen<br />

uns zu verständigen, die Atmosphäre ist warm.<br />

Er hilft seinem alten Bettnachbarn, die Strümpfe anzuziehen.<br />

Englisch, Deutsch, es klappt irgendwie. Er fragt<br />

nach Fußball. Über Familie will er nicht sprechen, ich<br />

lasse es. Wir erleben hautnah, was ein Trauma ist.<br />

Meine medizinischen Untersuchungen sind noch nicht<br />

abgeschlossen. Ich erhalte aber übers Wochenende Tages-<br />

ausgang. Bei meiner Rückkehr am Samstag Abend erfahre<br />

ich von der Schwester, dass Fahad viel geweint hat. Als wir<br />

uns begrüßen, lacht er wieder. Es ist seine Seele die verletzt<br />

ist. Er hat keine erkennbaren, körperlichen Schäden, aber<br />

das Pflegepersonal passt auf ihn auf. Bei meiner Entlassung<br />

gebe ich ihm meine Telefonnummer und lade ihn zum Kaffee<br />

ein. Er nickt und seine Augen strahlen. Auch ich bin sehr<br />

froh und fahre entspannt nach Hause.<br />

Plötzlich sind alle „großen“ Probleme etwas kleiner<br />

geworden, die Gewichtung hat sich verschoben. Ich spüre<br />

dass es Wege zur Wandlung gibt, sie sind auch in mir.<br />

Durch den Mangel an kleiner Selbstbeherrschung bröckelt<br />

die Fähigkeit zur großen ab.<br />

Jeder Tag ist schlecht genutzt und eine Gefahr für den nächsten,<br />

an dem man nicht wenigstens einmal sich etwas im kleinen<br />

versagt hat: Diese kleine Entbehrung ist unerlässlich, wenn<br />

man sich die Freude, sein eigener Herr zu sein, erhalten will.<br />

Nur durch Bedürfnisse bin ich eingeschränkt - oder einschränkbar.<br />

Betrachten wir uns in jeder Lage des Lebens, so finden<br />

wir, dass wir äußerlich bedingt sind, vom ersten Atemzug bis<br />

zum letzten; dass uns aber jedoch die höchste Freiheit übrig<br />

geblieben ist, uns innerhalb unserer selbst dergestalt auszubilden,<br />

dass wir uns mit der sittlichen Weltordnung in Einklang<br />

setzen und, was auch für Hindernisse sich hervortun,<br />

dadurch mit uns selbst zum Frieden gelangen können.<br />

Johann Wolfgang von Goethe<br />

Ist eine totale Korrektur erforderlich? Ich glaube das<br />

nicht, aber es ist gut, ein Fenster zu öffnen und frische<br />

Luft herein zu lassen. Es reicht diesmal nicht, nur hinter<br />

der sorgsam gefalteten Gardine die sich verändernde Welt<br />

zu betrachten. Nur so können wir mitgestalten und uns am<br />

Ende vielleicht über ein gelungenes Ergebnis freuen.<br />

So lange wir in einer für uns angemessenen Distanz<br />

zu den Neuankommenden in unserem Land bleiben, so<br />

lange bleibt die diffuse Angst vor dem Unbekannten. Das<br />

ändert sich, wenn wir freiwillig, oder auch unfreiwillig,<br />

den Weg zueinander finden. Und dabei dürfen wir sehr<br />

klar und aufrichtig sagen, wie wir uns das Zusammenleben<br />

vorstellen.<br />

Hat uns die für uns selbstverständliche 70jährige Friedenszeit<br />

zu Egoisten gemacht? Die Willkommenskultur<br />

sagt das Gegenteil, aber eine gewisse Ratlosigkeit in den<br />

Gesichtern unserer Mitmenschen ist oft nicht zu übersehen.<br />

Vielleicht hilft uns die Einsicht, es erst wieder lernen<br />

zu müssen. In der Politik gibt es für uns keine Vorbilder.<br />

Aber die Menschen die zu uns kommen, wollen sich ja in<br />

unser Leben „einmischen“ und nicht in die Politik.<br />

58 durchblick 2/<strong>2016</strong>

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