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Da sind auch die Gefühle, die weder gut noch schlecht<br />
sind, sondern existenziell! Es sind die diffusen Ängste<br />
vor einer ungewissen Zukunft und konkrete Ängste bei<br />
gesundheitlichen Problemen. Angst vor dem Verlust der<br />
Selbstständigkeit, vor dem Verlust der Identität z.B. durch<br />
Demenz. Mit 75 ist das Wissen um die Gefährdung des Lebens<br />
unterschwellig immer wach. Die Erfahrung weiß um<br />
die Unvorhersehbarkeit, die Unplanbarkeit der Ereignisse.<br />
Alle Gefühle, die unbestimmten und die konkreten Ängste,<br />
die großen und kleinen Glücksmomente, die öden Phasen<br />
der Langeweile, die empfundene Einsamkeit aber auch die<br />
Gesten von Zuneigung werden bewusster, intensiver wahrgenommen.<br />
In dieser Gemengelage von oft gegensätzlichen<br />
Gefühlen sehnt man sich im Alter manchmal nach mehr<br />
Gelassenheit.<br />
Und, wie fühlt sich das an, Gelassenheit? Diese souveräne<br />
innere Ruhe in aufregenden oder angstbesetzten<br />
Situationen? Wie kann sie zu einem tragenden Lebensgefühl<br />
werden? Kann ich es einfach abrufen, wenn ich es<br />
brauche? Die Antwort liegt vielleicht im Wort selbst verborgen:<br />
Lassen, ich lasse mich, ich lasse etwas nicht zu,<br />
lasse etwas los, ich überlasse etwas anderen, ich ver-lasse<br />
mich auf…. Habe ich in meinem Leben etwas worauf ich<br />
mich verlassen oder jemanden auf den ich mich verlassen<br />
kann? Worauf verlasse ich mich jetzt? Wie gewinne ich<br />
Ge-lassen-heit?<br />
Manchmal wünsche ich mir das naive Vertrauen meiner<br />
Kindheit, die selbstverständliche Frömmigkeit früher Jahre<br />
zurück, wie die unerschütterte Gewissheit, dass da Einer ist<br />
„… der mich liebt und der mich kennt und bei meinem<br />
Namen nennt“, der mich beschützt und auf den ich mich<br />
immer verlassen kann. Die Kinderabendgebete bringen<br />
das sehr schön zum Ausdruck. Manchmal bete ich sie heute<br />
wieder: „Müde bin ich, geh‘ zur Ruh, schließe beide<br />
Augen zu. Vater, lass die Augen Dein über meinem Bette<br />
sein …“ oder „Lieber Gott nun schlaf ich ein…“, darin<br />
ist alles gesagt. Dann spüre ich dem nach, was mich als<br />
Kind so beruhigt hat: Schön! Lässt sich das zurückholen,<br />
wieder finden? Was ist in den Jahren aus diesem Vertrauen<br />
geworden?<br />
Es ist so viel geschehen. Wege, die mich weit fortgeführt<br />
haben von dem was da früher war sind unumkehrbar.<br />
Aber ich habe eine Ahnung, dass etwas geblieben ist, ein<br />
verborgenes Fundament und dass es sich lohnt, danach zu<br />
suchen. Vielleicht ist das eine Chance, sie zu finden, die<br />
neue Gelassenheit?<br />
Wenn ich heute den Tag beschließe mit dem wunderschönem<br />
Abendlied von Matthias Claudius: „Der Mond ist<br />
aufgegangen…“, dann ist es für diesen einen Augenblick<br />
wieder da, das Gefühl der Kindheit, ohne es hinterfragen<br />
zu müssen, nach diesem dreiviertel Jahrhundert Lebenszeit,<br />
und das fühlt sich gut an!<br />
Anne Alhäuser<br />
Der Mond ist aufgegangen,<br />
die goldnen Sternlein prangen<br />
am Himmel hell und klar.<br />
Der Wald steht schwarz und schweiget<br />
und aus den Wiesen steiget<br />
der weiße Nebel wunderbar.<br />
Wie ist die Welt so stille<br />
und in der Dämmrung Hülle<br />
so traulich und so hold.<br />
Als eine stille Kammer<br />
wo ihr des Tages Jammer<br />
Verschlafen und vergessen sollt.<br />
Seht ihr den Mond dort stehen?<br />
Er ist nur halb zu sehen<br />
und ist doch rund und schön.<br />
So sind wohl manche Sachen,<br />
die wir getrost belachen,<br />
weil unsre Augen sie nicht sehn.<br />
Wir stolzen Menschenkinder<br />
sind eitel arme Sünder<br />
und wissen gar nicht viel.<br />
Wir spinnen Luftgespinste,<br />
und suchen viele Künste<br />
Und kommen weiter von dem Ziel.<br />
Gott, lass dein Heil uns schauen,<br />
auf nichts Vergänglichs trauen,<br />
nicht Eitelkeit uns freun.<br />
Lass uns einfältig werden<br />
und vor dir hier auf Erden<br />
wie Kinder fromm und fröhlich sein.<br />
Wollst endlich sonder Grämen<br />
aus dieser Welt uns nehmen<br />
durch einen sanften Tod.<br />
Und wenn du uns genommen,<br />
lass uns in‘ Himmel kommen,<br />
du unser Herr und unser Gott.<br />
So legt euch denn ihr Brüder<br />
in Gottes Namen nieder,<br />
kalt weht der Abendhauch.<br />
Verschon uns Gott mit Strafen<br />
und lass uns ruhig schlafen.<br />
Und unsern kranken Nachbarn auch.<br />
Matthias Claudius<br />
46 durchblick 2/<strong>2016</strong>