Bildende Kunst und Literatur
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<strong>Bildende</strong> <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> <strong>Literatur</strong><br />
brust verbindet, <strong>und</strong> uns bloß daran erinnern, daß die Tradition Leo-<br />
nardo wirklich als einen homosexuell Fühlenden bezeichnet. Dabei gilt<br />
es uns gleich, ob jene Anklage gegen den Jüngling Leonardo [S. 98–<br />
99] berechtigt war oder nicht; nicht die reale Betätigung, sondern die<br />
Einstellung des Gefühls entscheidet für uns darüber, ob wir irgend-<br />
jemand die Eigentümlichkeit der Inversion 1 zuerkennen sollen.<br />
Ein anderer unverstandener Zug der Kindheitsphantasie Leonardos<br />
nimmt unser Interesse zunächst in Anspruch. Wir deuten die Phantasie<br />
auf das Gesäugtwerden durch die Mutter <strong>und</strong> finden die Mutter ersetzt<br />
durch einen – Geier. Woher rührt dieser Geier, <strong>und</strong> wie kommt er an<br />
diese Stelle?<br />
Ein Einfall bietet sich da, so fernab liegend, daß man versucht wäre,<br />
auf ihn zu verzichten. In der heiligen Bilderschrift der alten Ägypter<br />
wird die Mutter allerdings mit dem Bilde des Geiers geschrieben 2 . Diese<br />
Ägypter verehrten auch eine mütterliche Gottheit, die geierköpfig ge-<br />
bildet wurde oder mit mehreren Köpfen, von denen wenigstens einer<br />
der eines Geiers war 3 . Der Name dieser Göttin wurde Mut ausge-<br />
sprochen; ob die Lautähnlichkeit mit unserem Worte »Mutter« nur eine<br />
zufällige ist? So steht der Geier wirklich in Beziehung zur Mutter, aber<br />
was kann uns das helfen? Dürfen wir Leonardo denn diese Kenntnis<br />
zumuten, wenn die Lesung der Hieroglyphen erst François Cham-<br />
pollion (1790–1832) gelungen ist? 4<br />
Man möchte sich dafür interessieren, auf welchem Wege auch nur die<br />
alten Ägypter dazu gekommen sind, den Geier zum Symbol der Mütter-<br />
lichkeit zu wählen. Nun war die Religion <strong>und</strong> Kultur der Ägypter<br />
bereits den Griechen <strong>und</strong> Römern Gegenstand wissenschaftlicher Neu-<br />
gierde, <strong>und</strong> lange, ehe wir selbst die Denkmäler Ägyptens lesen konn-<br />
ten, standen uns einzelne Mitteilungen darüber aus erhaltenen Schriften<br />
des klassischen Altertums zu Gebote, Schriften, die teils von bekannten<br />
Autoren herrühren, wie Strabo, Plutarch, Aminianus Marcellus, teils<br />
unbekannte Namen tragen <strong>und</strong> unsicher in ihrer Herkunft <strong>und</strong> Abfas-<br />
sungszeit sind wie die Hieroglyphica. des Horapollo Nilus <strong>und</strong> das unter<br />
dem Götternamen des Hermes Trismegistos überlieferte Buch orienta-<br />
lischer Priesterweisheit. Aus diesen Quellen erfahren wir, daß der<br />
1 [In der Ausgabe von 1910 heißt es »der Homosexualität«.]<br />
2 Horapollo, Hieroglyphica 1, 11. Μητέρα δὲ γράφοντες … γῦπα ζωγραφοῦσιν<br />
[»Um eine Mutter zu bezeichnen … zeichnen sie einen Geier.«]<br />
3 Roscher (1894–97), Lanzone (1882).<br />
4 H. Hartleben (1906).<br />
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