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Bildende Kunst und Literatur

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I. KAPITEL<br />

Wenn die seelenärztliche Forschung, die sich sonst mit schwächlichem<br />

Menschenmaterial begnügt, an einen der Großen des Menschenge-<br />

schlechts herantritt, so folgt sie dabei nicht den Motiven, die ihr von<br />

den Laien so häufig zugeschoben werden. Sie strebt nicht danach, »das<br />

Strahlende zu schwärzen <strong>und</strong> das Erhabene in den Staub zu ziehen« 1 ;<br />

es bereitet ihr keine Befriedigung, den Abstand zwischen jener Vollkom-<br />

menheit <strong>und</strong> der Unzulänglichkeit ihrer gewöhnlichen Objekte zu ver-<br />

ringern. Sondern sie kann nicht anders, als alles des Verständnisses wert<br />

finden, was sich an jenen Vorbildern erkennen läßt, <strong>und</strong> sie meint, es<br />

sei niemand so groß, daß es für ihn eine Schande wäre, den Gesetzen zu<br />

unterliegen, die normales <strong>und</strong> krankhaftes Tun mit gleicher Strenge be-<br />

herrschen.<br />

Als einer der größten Männer der italienischen Renaissance ist Leonardo<br />

da Vinci (1452–1519) schon von den Zeitgenossen bew<strong>und</strong>ert worden<br />

<strong>und</strong> doch bereits ihnen rätselhaft erschienen, wie auch jetzt noch uns. Ein<br />

allseitiges Genie, »dessen Umrisse man nur ahnen kann – nie ergrün-<br />

den« 2 , übte er den maßgebendsten Einfluß auf seine Zeit als Maler aus;<br />

erst uns blieb es vorbehalten, die Größe des Naturforschers (<strong>und</strong> Tech-<br />

nikers) 3 zu erkennen, der sich in ihm mit dem Künstler verband. Wenn-<br />

gleich er Meisterwerke der Malerei hinterlassen, während seine wissen-<br />

schaftlichen Entdeckungen unveröffentlicht <strong>und</strong> unverwertet blieben, hat<br />

doch in seiner Entwicklung der Forscher den Künstler nie ganz frei-<br />

gelassen, ihn oftmals schwer beeinträchtigt <strong>und</strong> ihn vielleicht am Ende<br />

unterdrückt. Vasari legt ihm in seiner letzten Lebensst<strong>und</strong>e den Selbst-<br />

vorwurf in den M<strong>und</strong>, daß er Gott <strong>und</strong> die Menschen beleidigt, indem<br />

er in seiner <strong>Kunst</strong> nicht seine Pflicht getan 4 . Und wenn auch diese Er-<br />

1 [»Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen / Und das Erhabene in den Staub<br />

zu ziehn.« Aus dem Gedicht ›Das Mädchen von Orleans‹ von Schiller, das der Jungfrau<br />

von Orleans in der Ausgabe von 1801 als ein zusätzlicher Prolog beigegeben ist.]<br />

2 Nach dem Worte Jacob Burckhardts, zitiert bei Alexandra Konstantinowa (1907 [51]).<br />

3 [Die eingeklammerten Worte wurden 1923 hinzugefügt.]<br />

4 »Egli per reverenza, rizzatosi a sedere sul letto, contando il mal suo e gli accidenti<br />

di quello, mostrava tuttavia, quanto aveva offeso Dio e gli uomini del mondo, non<br />

avendo operato nell’ arte come st conveniva.« Vasari, Vite etc. LXXXIII (1550<br />

[herausgegeben von Poggi, 1919, 43]). [»Leonardo richtete sich ehrfurchtsvoll empor,<br />

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