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Bildende Kunst und Literatur

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III. KAPITEL<br />

In der Kindheitsphantasie Leonardos repräsentierte uns das Element des<br />

Geiers den realen Erinnerungsinhalt; der Zusammenhang, in den Leo-<br />

nardo selbst seine Phantasie gestellt hatte, warf ein helles Licht auf die<br />

Bedeutung dieses Inhalts für sein späteres Leben. Bei fortschreitender<br />

Deutungsarbeit stoßen wir nun auf das befremdliche Problem, warum<br />

dieser Erinnerungsinhalt in eine homosexuelle Situation umgearbeitet<br />

worden ist. Die Mutter, die das Kind säugt – besser: an der das Kind<br />

saugt –, ist in einen Geiervogel verwandelt, der dem Kinde seinen<br />

Schwanz in den M<strong>und</strong> steckt. Wir behaupten [S. 112], daß die »coda«<br />

des Geiers nach gemeinem substituierenden Sprachgebrauch gar nichts<br />

anderes als ein männliches Genitale, einen Penis, bedeuten kann. Aber<br />

wir verstehen nicht, wie die Phantasietätigkeit dazu gelangen kann,<br />

gerade den mütterlichen Vogel mit dem Abzeichen der Männlichkeit<br />

auszustatten, <strong>und</strong> werden angesichts dieser Absurdität an der Möglich-<br />

keit irre, dieses Phantasiegebilde auf einen vernünftigen Sinn zu redu-<br />

zieren.<br />

Indes wir dürfen nicht verzagen. Wieviel scheinbar absurde Träume<br />

haben wir nicht schon genötigt, ihren Sinn einzugestehen! Warum sollte<br />

es bei einer Kindheitsphantasie schwieriger werden als bei einem<br />

Traum!<br />

Erinnern wir uns daran, daß es nicht gut ist, wenn sich eine Sonderbar-<br />

keit vereinzelt findet, <strong>und</strong> beeilen wir uns, ihr eine zweite, noch auf-<br />

fälligere, zur Seite zu stellen 1 .<br />

Die geierköpfig gebildete Göttin Mut der Ägypter, eine Gestalt von<br />

ganz unpersönlichem Charakter, wie Drexler in Roschers Lexikon ur-<br />

teilt, wurde häufig mit anderen mütterlichen Gottheiten von lebendige-<br />

rer Individualität wie Isis <strong>und</strong> Hathor verschmolzen, behielt aber da-<br />

neben ihre gesonderte Existenz <strong>und</strong> Verehrung. Es war eine besondere<br />

Eigentümlichkeit des ägyptischen Pantheons, daß die einzelnen Götter<br />

nicht im Synkretismus untergingen. Neben der Götterkomposition blieb<br />

die einfache Göttergestalt in ihrer Selbständigkeit bestehen. Diese geier-<br />

1 [Vgl. einige ähnliche Bemerkungen Freuds In der Traumdeutung (1900 a), ziemlich<br />

zu Anfang des Kapitels IV.]<br />

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