Bildende Kunst und Literatur
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<strong>Bildende</strong> <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> <strong>Literatur</strong><br />
rung des Geierschwanzes in Leonardos Kindheitsphantasie nicht begnü-<br />
gen dürfen. Es scheint mehr in ihr enthalten, was wir noch nicht ver-<br />
stehen. Ihr auffälligster Zug war doch, daß sie das Saugen an der Mut-<br />
terbrust in ein Gesäugtwerden, also in Passivität <strong>und</strong> damit in eine<br />
Situation von unzweifelhaft homosexuellem Charakter verwandelte.<br />
Eingedenk der historischen Wahrscheinlichkeit, daß sich Leonardo im<br />
Leben wie ein homosexuell Fühlender benahm, drängt sich uns die<br />
Frage auf, ob diese Phantasie nicht auf eine ursächliche Beziehung zwi-<br />
schen Leonardos Kinderverhältnis zu seiner Mutter <strong>und</strong> seiner späteren<br />
manifesten, wenn auch ideellen [sublimierten] Homosexualität hin-<br />
weist. Wir würden uns nicht getrauen, eine solche aus der entstellten<br />
Reminiszenz Leonardos zu erschließen, wenn wir nicht aus den psycho-<br />
analytischen Untersuchungen von homosexuellen Patienten wüßten, daß<br />
eine solche besteht, ja daß sie eine innige <strong>und</strong> notwendige ist.<br />
Die homosexuellen Männer, die in unseren Tagen eine energische Aktion<br />
gegen die gesetzliche Einschränkung ihrer Sexualbetätigung unternom-<br />
men haben, lieben es, sich durch ihre theoretischen Wortführer als eine<br />
von Anfang an gesonderte geschlechtliche Abart, als sexuelle Zwischen-<br />
stufen, als ein »drittes Geschlecht« hinstellen zu lassen. Sie seien Män-<br />
ner, denen organische Bedingungen vom Keime an das Wohlgefallen am<br />
Mann aufgenötigt, das am Weibe versagt hätten. So gerne man nun aus<br />
humanen Rücksichten ihre Forderungen unterschreibt, so zurückhaltend<br />
darf man gegen ihre Theorien sein, die ohne Berücksichtigung der psy-<br />
chischen Genese der Homosexualität aufgestellt worden sind. Die Psycho-<br />
analyse bietet die Mittel, diese Lücke auszufüllen <strong>und</strong> die Behauptungen<br />
der Homosexuellen der Probe zu unterziehen. Sie hat dieser Aufgabe<br />
erst bei einer geringen Zahl von Personen genügen können, aber alle<br />
bisher vorgenommenen Untersuchungen brachten das nämliche über-<br />
raschende Ergebnis 1 . Bei allen unseren homosexuellen Männern gab es<br />
in der ersten, vom Individuum später vergessenen Kindheit eine sehr<br />
intensive erotische Bindung an eine weibliche Person, in der Regel an<br />
die Mutter, hervorgerufen oder begünstigt durch die Überzärtlichkeit<br />
der Mutter selbst, ferner unterstützt durch ein Zurücktreten des Vaters<br />
im kindlichen Leben. Sadger hebt hervor, daß die Mütter seiner homo-<br />
sexuellen Patienten häufig Mannweiber waren, Frauen mit energischen<br />
Charakterzügen, die den Vater aus der ihm gebührenden Stellung drän-<br />
1 Es sind dies vornehmlich Untersuchungen von I. Sadger, die ich aus eigener Erfah-<br />
rung im wesentlichen bestätigen kann. Überdies ist mir bekannt, daß W. Stekel in Wien<br />
<strong>und</strong> S. Ferenczi in Budapest zu den gleichen Resultaten gekommen sind.<br />
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