Bildende Kunst und Literatur
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Goethe-Preis<br />
den Künstler macht, <strong>und</strong> sie könnte uns nicht helfen, den Wert <strong>und</strong> die<br />
Wirkung seiner Werke besser zu erfassen. Und doch ist es unzweifelhaft,<br />
daß eine solche Biographie ein starkes Bedürfnis bei uns befriedigt. Wir<br />
verspüren dies so deutlich, wenn die Ungunst der historischen Überliefe-<br />
rung diesem Bedürfnis die Befriedigung versagt hat, z. B. im Falle<br />
Shakespeares. Es ist uns allen unleugbar peinlich, daß wir noch immer<br />
nicht wissen, wer die Komödien, Trauerspiele <strong>und</strong> Sonette Shakespeares<br />
verfaßt hat, ob wirklich der ungelehrte Sohn des Stratforder Kleinbür-<br />
gers, der in London eine bescheidene Stellung als Schauspieler erreicht,<br />
oder doch eher der hochgeborene <strong>und</strong> feingebildete, leidenschaftlich un-<br />
ordentliche, einigermaßen deklassierte Aristokrat Edward de Vere, sieb-<br />
zehnter Earl of Oxford, erblicher Lord Great Chamberlain von<br />
England 1 . Wie rechtfertigt sich aber ein solches Bedürfnis, von den<br />
Lebensumständen eines Mannes K<strong>und</strong>e zu erhalten, wenn dessen Werke<br />
für uns so bedeutungsvoll geworden sind? Man sagt allgemein, es sei das<br />
Verlangen, uns einen solchen Mann auch menschlich näherzubringen.<br />
Lassen wir das gelten; es ist also das Bedürfnis, affektive Beziehungen<br />
zu solchen Menschen zu gewinnen, sie den Vätern, Lehrern, Vorbildern<br />
anzureihen, die wir gekannt oder deren Einfluß wir bereits erfahren<br />
haben, unter der Erwartung, daß ihre Persönlichkeiten ebenso großartig<br />
<strong>und</strong> bew<strong>und</strong>ernswert sein werden wie die Werke, die wir von ihnen<br />
besitzen.<br />
Immerhin wollen wir zugestehen, daß noch ein anderes Motiv im Spiele<br />
ist. Die Rechtfertigung des Biographen enthält auch ein Bekenntnis.<br />
Nicht herabsetzen zwar will der Biograph den Heros, sondern ihn uns<br />
näherbringen. Aber das heißt doch die Distanz, die uns von ihm trennt,<br />
verringern, wirkt doch in der Richtung einer Erniedrigung. Und es ist<br />
unvermeidlich, wenn wir vom Leben eines Großen mehr erfahren, wer-<br />
den wir auch von Gelegenheiten hören, in denen er es wirklich nicht<br />
1 [Diese Ansicht über die Autorschaft der Werke Shakespeares veröffentlichte Freud<br />
erstmals in einer 1930 in Kapitel V (D) der Traumdeutung (1900 a) hinzugefügten An-<br />
merkung, obgleich er sie schon in einem Brief vom 25. Dezember 1928 an Lytton<br />
Strachey erörtert hatte (der Brief ist in der zweiten, erweiterten Auflage, 1968, von<br />
Freud 1960« enthalten). Hier, im obigen Text, geht er noch etwas ausführlicher auf<br />
diese Frage ein <strong>und</strong> erwähnt sie abermals in einer 1935 seiner Selbstdarstellung (1925 d)<br />
hinzugefügten Anmerkung, ziemlich zu Anfang des Kapitels VI. Noch einmal findet<br />
sich dieser Hinweis in dem posthum veröffentlichten Abriß (1940 a [1938]), in einer<br />
Anmerkung zu einer der letzten Seiten von Kapitel VII. Eine längere Argumentation<br />
zugunsten dieser Ansicht findet sich in dem Brief Freuds vom 25. März 1934 an J. S. H.<br />
Branson, abgedruckt in Anhang I (Nr. 27) des dritten Bandes der Freud-Biographie<br />
von Ernest Jones (1962 b, 528–529).]<br />
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