Bildende Kunst und Literatur
Bildende Kunst und Literatur
Bildende Kunst und Literatur
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>Bildende</strong> <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> <strong>Literatur</strong><br />
drängung der Liebe zur Mutter konserviert er dieselbe in seinem Unbe-<br />
wußten <strong>und</strong> bleibt von nun an der Mutter treu. Wenn er als Liebhaber<br />
Knaben nachzulaufen scheint, so läuft er in Wirklichkeit vor den ande-<br />
ren Frauen davon, die ihn untreu machen könnten. Wir haben auch<br />
durch direkte Einzelbeobachtung nachweisen können, daß der scheinbar<br />
nur für männlichen Reiz Empfängliche in Wahrheit der Anziehung, die<br />
vom Weibe ausgeht, unterliegt wie ein Normaler; aber er beeilt sich<br />
jedesmal, die vom Weibe empfangene Erregung auf ein männliches<br />
Objekt zu überschreiben, <strong>und</strong> wiederholt auf solche Weise immer wieder<br />
den Mechanismus, durch den er seine Homosexualität erworben hat.<br />
Es liegt uns ferne, die Bedeutung dieser Aufklärungen über die psy-<br />
chische Genese der Homosexualität zu übertreiben. Es ist ganz unver-<br />
kennbar, daß sie den offiziellen Theorien der homosexuellen Wort-<br />
führer grell widersprechen, aber wir wissen, daß sie nicht umfassend<br />
genug sind, um eine endgültige Klärung des Problems zu ermöglichen.<br />
Was man aus praktischen Gründen Homosexualität heißt, mag aus<br />
mannigfaltigen psychosexuellen Hemmungsprozessen hervorgehen, <strong>und</strong><br />
der von uns erkannte Vorgang ist vielleicht nur einer unter vielen <strong>und</strong><br />
bezieht sich nur auf einen Typus von »Homosexualität«. Wir müssen<br />
auch zugestehen, daß bei unserem homosexuellen Typus die Anzahl der<br />
Fälle, in denen die von uns geforderten Bedingungen aufzeigbar sind,<br />
weitaus die jener Fälle übersteigt, in denen der abgeleitete Effekt wirk-<br />
lich eintritt, so daß auch wir die Mitwirkung unbekannter konstitutio-<br />
neller Faktoren nicht abweisen können, von denen man sonst das Ganze<br />
der Homosexualität abzuleiten pflegt. Wir hätten überhaupt keinen An-<br />
laß gehabt, auf die psychische Genese der von uns studierten Form von<br />
Homosexualität einzugehen, wenn nicht eine starke Vermutung dafür<br />
spräche, daß gerade Leonardo, von dessen Geierphantasie wir ausge-<br />
gangen sind, diesem einen Typus der Homosexuellen angehört 1 .<br />
So wenig Näheres über das geschlechtliche Verhalten des großen Künst-<br />
lers <strong>und</strong> Forschers bekannt ist, so darf man sich doch der Wahrschein-<br />
lichkeit anvertrauen, daß die Aussagen seiner Zeitgenossen nicht im<br />
gröbsten irregingen. Im Lichte dieser Überlieferungen erscheint er uns<br />
also als ein Mann, dessen sexuelle Bedürftigkeit <strong>und</strong> Aktivität außer-<br />
1 [Eine allgemeinere Erörterung der Homosexualität <strong>und</strong> ihrer Ursprünge gibt Freud<br />
in der ersten der Drei Abhandlungen, vor allem in der langen (zwischen 1910 <strong>und</strong> 1920<br />
hinzugefügten) Anmerkung, auf welche sich die letzte Anmerkung bezieht. Von ande-<br />
ren, späteren Diskussionen dieses Themas sei vor allem auf Freuds Darstellung eines<br />
Falles von weiblicher Homosexualität (1920 a) <strong>und</strong> die Arbeit ›Über einige neurotische<br />
Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia <strong>und</strong> Homosexualität (1922 b) hingewiesen.]<br />
126