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Bildende Kunst und Literatur

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<strong>Bildende</strong> <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> <strong>Literatur</strong><br />

Wichtiger ist zweitens die Verknüpfung mit der ägyptischen Mythologie. Die<br />

Hieroglyphe für »mut«, das ägyptische Wort für »Mutter«, stellt mit Sicherheit<br />

einen Geier <strong>und</strong> nicht einen Milan dar. Die verbindliche ägyptische Grammatik<br />

Gardiners (2. Aufl., 1950, 469) identifiziert den Vogel als »Gyps fulvus«, den<br />

Gänsegeier. Hieraus folgt, daß Freuds Theorie, der Phantasievogel Leonardos<br />

stehe für seine Mutter, sich nicht unmittelbar mit dem ägyptischen Mythos<br />

belegen läßt; demnach ist auch die Frage, ob Leonardo diesen Mythos ge-<br />

kannt habe, unerheblich 1 . Die Vogelphantasie <strong>und</strong> der Mythos scheinen keine<br />

direkte Beziehung zueinander zu haben. Aber unabhängig voneinander be-<br />

trachtet, stellen beide ein interessantes Problem. Wie kommt es, daß die alten<br />

Ägypter die Vorstellungen »Geier« <strong>und</strong> »Mutter« miteinander verbanden?<br />

Genügt die Erklärung der Ägyptologen, daß es sich um eine rein zufällige pho-<br />

netische Koinzidenz handele? Wenn sie nicht ausreicht, muß Freuds Diskussion<br />

androgyner Mutter-Göttinnen, auch unabhängig von der Verknüpfung mit<br />

Leonardo von Bedeutung sein. Zugleich verlangt aber auch Leonardos Phan-<br />

tasie von dem Vogel, der ihn in der Wiege besucht <strong>und</strong> ihm seinen Schwanz<br />

in den M<strong>und</strong> gesteckt habe, nach einer Erklärung – ganz gleich, ob das Tier ein<br />

Geier oder ein Milan war. Und Freuds psychologische Analyse der Phantasie<br />

wird daher von dieser Richtigstellung durchaus nicht entwertet; es braucht nur<br />

ein einzelnes Beweisstück aufgegeben zu werden.<br />

So wird denn trotz der Irrelevanz des Exkurses in die ägyptische Mythologie<br />

– der, für sich genommen, übrigens noch interessant genug ist – Freuds Studie<br />

durch den Fehler bei der Identifizierung des Vogels in den Gr<strong>und</strong>zügen nicht<br />

entwertet: die eingehende Rekonstruktion des Seelenlebens Leonardos von<br />

seiner frühesten Kindheit an, die Darstellung des Konflikts zwischen seinen<br />

künstlerischen <strong>und</strong> seinen wissenschaftlichen Antrieben, die tiefreichende Ana-<br />

lyse seiner psychosexuellen Lebensgeschichte sind nicht davon betroffen. Zu-<br />

sätzlich zu diesen Hauptthemen bietet die Studie noch eine ganze Reihe nicht<br />

weniger wichtiger Nebenthemen: eine allgemeinere Diskussion über Wesen <strong>und</strong><br />

Wirken der Psyche des schaffenden Künstlers, eine Skizze der Entstehung eines<br />

bestimmten Typus der Homosexualität <strong>und</strong> – was besonders für die Geschichte<br />

der psychoanalytischen Theorie von Interesse ist – das erstmalige Auftreten des<br />

vollentwickelten Narzißmus-Begriffes.<br />

1 Auch das Märchen von der Eingeschlechtlichkeit der Geier <strong>und</strong> ihrer Fortpflanzung<br />

ohne männliche Befruchtung, das Freud als Bestätigung seiner Vermutung heranzieht,<br />

Leonardo habe in seiner Kindheit eine ausschließliche Mutterbindung gehabt, verliert<br />

seine Beweiskraft – andererseits wird durch das Wegfallen dieses Gleichnisses gegen das<br />

Vorhandensein dieser Bindung nichts Entscheidendes ausgesagt.<br />

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