86 Presseseite Steglitzer Heimat – Mitteilungsblatt <strong>de</strong>s Heimatvereins Steglitz e. V. Nr. 1/2 <strong>2003</strong>
Wohngemeinschaft für <strong>de</strong>menziell erkrankte Menschen Karen Gebert 87 Ein Tag in einer Wohngemeinschaft für an Demenz erkrankte alte Menschen Heute erwacht Frau Müller* um 8.20 Uhr. Leise Musik und Stimmen von Frauen kommen ihr vertraut vor. Frau Müller spürt, dass sie nicht allein ist. Zaghaft ruft sie: „Hallo“ Es dauert gar nicht lange, und eine junge Frau, die Pßegerin Susanne Schmitt* sieht zur Tür herein. „Guten Morgen, Frau Müller, haben sie gut geschlafen“ Frau Müller nickt. „Möchten sie jetzt aufstehen“ Frau Müller möchte noch eine halbe Stun<strong>de</strong> liegen bleiben. Sie trinkt ein Paar Schlucke von <strong>de</strong>m Saft, <strong>de</strong>n die Pßegerin ihr anbietet und schließt noch mal die Augen. Kurz vor 9.00 Uhr betritt die Pßegerin wie<strong>de</strong>r das Zimmer von Frau Müller. Diese öffnet ihre Augen. „Na, Frau Müller, kann ich die Waschschüssel holen Bestimmt haben Sie bereits Hunger auf Frühstück“ Tatsächlich verspürt Frau Müller ein <strong>de</strong>utliches Hungergefühl und willigt ein. Da Frau Müller nur mit Hilfe von zwei Pßegekräften stehen bzw. ein paar Schritte laufen kann, wird die Intimpßege bei ihr im Bett durchgeführt. Meist hilft Frau Müller so gut es ihr möglich ist dabei mit. Sie hebt <strong>de</strong>n Po an, dreht sich auf die Seite u. s. w. Nur wenn sie schlechte Laune hat, schimpft Frau Müller die sich ihr nähern<strong>de</strong>n Personen ohne Grund heftig aus. Es ist Frau Müller – die früher fest mit <strong>de</strong>n Füßen im Leben stand, allein für ihre Kin<strong>de</strong>r und später für ihre Enkel sorgte, die sich ihren Lebensunterhalt selbst verdiente – unangenehm, dass man sie jetzt im Alter wie ein Baby waschen und win<strong>de</strong>ln muss. Die Pßegekräfte wissen das und versuchen mit viel Feingefühl, diese Situation für Frau Müller einigermaßen erträglich zu machen. Als Frau Müller gewaschen und mit frischem Inkontinenzmaterial versorgt auf <strong>de</strong>r Bettkante sitzt, ruft die Pßegerin eine zweite Pßegekraft hinzu. Die Pßegekräfte stützen Frau Müller zu bei<strong>de</strong>n Seiten und gemeinsam laufen sie bis zum Rollstuhl, <strong>de</strong>r am an<strong>de</strong>ren En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Zimmers steht. Dankbar lässt sich Frau Müller in ihren Rollstuhl gleiten. Eine schmerzhafte Arthrose in ihrem rechten Kniegelenk lässt je<strong>de</strong>n Schritt für sie zur Qual wer<strong>de</strong>n. Trotz<strong>de</strong>m können die Pßegekräfte sie immer wie<strong>de</strong>r motivieren, kurze Gehübungen zu absolvieren. Schmerzmittel lehnt Frau Müller energisch ab. Im Rollstuhl sitzend wird sie nun ins Bad gefahren. Hier wäscht sie sich allein das Gesicht und <strong>de</strong>n Oberkörper. In <strong>de</strong>r Zeit bereitet die Pßegerin das Frühstück zu. Frau Müller hat sich eine Milchsuppe und eine Scheibe gebutterten Toast gewünscht. Manchmal kommt es vor, dass Frau Müller dieses Frühstück dann doch nicht mehr will. Sie hat einfach vergessen, worauf sie gera<strong>de</strong> noch Appetit hatte und ist dann regelrecht empört, was die Pßegekräfte ihr da auftischen wollen. Doch heute ist sie ganz zufrie<strong>de</strong>n. Nach<strong>de</strong>m Frau Müller ihr Frühstück verspeist hat, wird sie von einer Pßegekraft gefragt, ob sie die Kartoffeln für das Mittagessen schälen möchte. Solche Aufgaben übernimmt Frau Müller gern. Während sie gemütlich am Tisch im Wohnzimmer sitzt, kommen nach und nach auch ihre Mitbewohner/innen hinzu. Gespräche kommen nur selten auf. Vielleicht hat die Demenz, die bei <strong>de</strong>n einzelnen Bewohnern in völlig unterschiedlichem Maß hervortritt, I<strong>de</strong>en für mögliche Gesprächsthemen einfach ausgelöscht. Je<strong>de</strong>nfalls antworten die meisten Bewohner/innen höchstens noch mit ja o<strong>de</strong>r nein auf die ihnen gestellten Fragen o<strong>de</strong>r sie reagieren oft gar nicht mehr. Manchmal kommt allerdings auch, ganz unverhofft, ein so klar formulierter Satz, <strong>de</strong>r die aktuelle Situation 100-prozentig trifft, dass die Anwesen<strong>de</strong>n das gera<strong>de</strong> Gehörte kaum fassen können. Das sind dann „lichte Augenblicke“, die bereits Sekun<strong>de</strong>n später wie<strong>de</strong>r vorbei sein können. Allmählich naht die Mittagszeit. Die Mahlzeit nehmen die Bewohner/innen gemeinsam ein. Dabei kommt es vor, dass sich zum Beispiel zwei o<strong>de</strong>r drei Bewohner/innen miteinan<strong>de</strong>r verbün<strong>de</strong>n und gemeinsam einen vierten Bewohner „rausschmeißen“ wollen, <strong>de</strong>r sich beim Husten nicht die Hand vor <strong>de</strong>n Mund hält. Plötzlich sind sie sich einig und ekeln sich gemeinsam. Doch zum Glück vergessen sie auch schnell wie<strong>de</strong>r diese unangenehmen Situationen und trösten o<strong>de</strong>r streicheln sich gegenseitig bei Bedarf. * alle Namen von <strong>de</strong>r Redaktion geän<strong>de</strong>rt