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1.3. Die Erde als Scheibe<br />
12<br />
Noch heute findet man in Büchern über die <strong>Fahrten</strong> <strong>des</strong> <strong>Kolumbus</strong> die Behauptung, die<br />
Mitglieder der Kommission, welche die Möglichkeit einer Westfahrt nach Asien beurteilen<br />
sollten, hätten das Projekt mit der Begründung abgelehnt, dies sei unmöglich, da<br />
die Erde eine Scheibe sei. Ganz abgesehen davon, daß die Begründung der Ablehnung<br />
nicht überliefert ist, darf man die obige Behauptung in das Reich der Anekdoten verweisen,<br />
denn die Fachleute waren sich, wie wir gesehen haben, über die Gestalt der Erde<br />
und ihre Größe völlig im Klaren. Woher aber diese unausrottbare Ansicht, noch zu<br />
Beginn der Neuzeit habe man geglaubt, die Erde sei eine Scheibe?<br />
Okeanos<br />
Jerusalem<br />
Pontos Mare rubrum<br />
Mare<br />
mediterraneum<br />
Europa Africa<br />
Der wohl wichtigste Grund<br />
für diese irrige Ansicht sind<br />
bildliche Darstellungen, auf<br />
denen die Erde tatsächlich als<br />
Scheibe dargestellt ist. Es<br />
handelt sich hierbei um sogenannte<br />
O-T-Karten, die als<br />
Wandschmuck in Klöstern<br />
verwendet wurden und sich in<br />
vereinfachter Form in zahlreichen<br />
mittelalterlichen Schriften<br />
finden; als Wandschmuck<br />
hat übrigens nur eine dieser<br />
Karten überdauert, sie befindet<br />
sich im englischen Herford.<br />
Okeanos<br />
Alle diese Karten zeigen dasselbe<br />
Schema (vgl. Abb. 8):<br />
Im Zentrum einer kreisförmi-<br />
Abb. 8 Schema einer OT-Karte<br />
gen Landmasse befindet sich<br />
die heilige Stadt Jerusalem.<br />
Die obere Hälfte der Erdscheibe stellt Asien dar (die Karte ist also „geostet“ und nicht<br />
„genordet“, wie heute üblich), das linke untere Viertel ist Europa, das rechte untere<br />
Viertel ist Afrika. Zwischen diesen drei Kontinenten befindet sich eine T-förmige Wassermasse:<br />
Der senkrechte T-Strich symbolisiert das Mittelmeer, die linke Hälfte <strong>des</strong><br />
Querstriches ist das Schwarze Meer (der Pontos) und die rechte Hälfte <strong>des</strong> Querstriches<br />
steht für die Wassermassen <strong>des</strong> Nils oder auch <strong>des</strong> Roten Meeres. Je nach Größe der<br />
Karte findet man zahlreiche weitere Details: Städte, Flüsse, Gebirge, Menschen und<br />
Tiere. Am Rande der Scheibe siedeln Monster und sagenhafte Völker; umgeben wird<br />
die Erdscheibe vom Weltenmeer, dem Okeanos.<br />
Schon die oft recht schematische Darstellungsweise zeigt, daß es sich bei diesen Karten<br />
nicht um geographische Karten handeln kann. Eine O-T-Karte ist vielmehr ein Sinnbild<br />
<strong>des</strong> göttlichen Schöpfungsplanes: In der Mitte die heilige Stadt, in der Jesus gekreuzigt<br />
wurde und von den Toten auferstand, konzentrisch umgeben von der „Ökumene“, der<br />
von zivilisierten Völkern bewohnten Welt, wobei Asien, der Kontinent der Geburt<br />
Christi und <strong>des</strong> ersten Wirkens der Apostel, den größten Raum einnimmt und den<br />
wichtigsten Teil <strong>des</strong> „Erdkreises“, nämlich den oberen Teil. Zugleich sind alle<br />
bedrohlichen Kräfte, symbolisiert durch Monster und sonstige Mischwesen, durch Gott<br />
an den Rand der Ökumene verbannt. Natürlich wird es zahlreiche naive Klosterbrüder