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Zwischen Arktis Adria und Armenien

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298 Teutonica orientalia<br />

Nach einer Unterbrechung berichtet Line Hübner weiter:<br />

„Nee: Hunger gelitten hab ich da nich“ knüpfte sie an; mit der erhabenen Ruhe der gewesenen<br />

<strong>und</strong> im Leben auf Alles gefaßten Halbsklavin: „Ich hatte sogar n Antrag auf polnische<br />

Staatsangehörigkeit gestellt: meine Großmutter war ne geborene Ronkowski 60 gewesen,<br />

<strong>und</strong> da war ja vielleicht die Möglichkeit – “. [. . . ]<br />

Und laufend die Ausweisungen der Deutschen: „Ich hatte meinen Reisekorb auch immer<br />

fertig gepackt: 500 Reichsmark durfte man mitnehmen; dann noch 1 Bettstück; Kleider,<br />

Wäsche, Gebrauchsgegenstände; 40 Kilo im Ganzen. –: Einmal hatt’ ich schon mit gesollt:<br />

da bin ich ‚ohnmächtig‘ geworden.“ Diesmal (am 26. Juli 1947) wieder. – „Wir dachten,<br />

der Zug wäre schon weg, <strong>und</strong> Matonis schenkte mir schon zur Feier“ (der neuerlichen Rettung<br />

seiner unbezahlbaren ‚Stütze‘) „n Likör ein: da kam die Miliz, mich holen: ‚Deutsches<br />

Schwein!‘: ‚Hast Dich von Tranns-porrt gedrückt!‘“ (<strong>und</strong> immer mit dem Stock drauf; auf<br />

den flehenden Handbogen oben!). „Dann haben sie mich an Ort <strong>und</strong> Stelle durchsucht: soo<br />

gemein!“ (mit dem Finger; überall; [. . . ] sie berichtete auch schon entschuldigend, daß eine<br />

früher mal ne Taschenuhr drin gehabt hätte, <strong>und</strong> seitdem wären sie eben so gewesen.<br />

Das bissel Büstenhalter abgerissen; „hinten reingefahren“; im Hemdsaum fanden sie das<br />

einzige goldene Zwanzigmarkstück). [. . . ]<br />

Matonis hätte ihr erst noch den Weidenkorb zum Lastauto tragen helfen wollen: da wären<br />

aber grade andere Polen vom Sportplatz gekommen: „Was!? Du hilfst einer Nimka!!“ – da<br />

hätte er sich wie begossen ganz sachte seitwärts gedrückt: „Aber auch die Deutschen, die<br />

schon oben standen, haben nicht einmal mit angefaßt; nicht Einer: ‚Uns hat auch niemand<br />

geholfen‘.“ (‚Nimka‘ = ‚Njemski‘ ‚Stumme H<strong>und</strong>e‘: die ‚Slawa‘ das ‚Wort‘ nicht haben!) 61<br />

(Dann nach Moys, ‚ins Lager‘; dann ins nächste, nach Weißenfels; Trümmerräumen <strong>und</strong><br />

Ziegelabklopfen. (93–94)<br />

Kommentar überflüssig.<br />

IX.<br />

In der Retrospektive von 60 Jahren stellt sich Arno Schmidt 1956 erschienener Roman<br />

Das steinerne Herz als eine Sensation in der b<strong>und</strong>esdeutschen Literatur dar, die<br />

sich indes in der zeitgenössischen Perzeption als Skandal ausnahm. Die vom Literaturbetrieb,<br />

aber auch von Medien, Kirchen <strong>und</strong> Politik der alten B<strong>und</strong>esrepublik<br />

dem Buch entgegenbrachte Ablehnung hat seine Rezeption seinerzeit nahezu verhindert<br />

– mit Spätwirkungen bis heute. Das ist mit Blick auf das von Schmidt beherzt<br />

angefasste, damals hochgradig aktuelle heiße Eisen der partiellen Konsolidierung<br />

der DDR, mehr noch auf das im Vergleich dazu „kalte Eisen“ des b<strong>und</strong>esrepubli-<br />

60 Statt „geborene Ronkowski“ hatte es im Typoskript ursprünglich „geborene Murawski“ geheißen –<br />

der Nachname von Schmidts Schwiegermutter <strong>und</strong> der Mädchenname seiner Frau. Vgl. Varianten-<br />

Apparat, S. 359.<br />

61 Hier irrt Schmidt aufgr<strong>und</strong> fehlender slavistischer Kenntnisse gleich mehrfach. Vgl. dazu ausführlich<br />

Piperek: Arno Schmidt <strong>und</strong> die Welt der Slaven, S. 101–103.

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