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Zwischen Arktis Adria und Armenien

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„Hochverehrter Meister <strong>und</strong> Genosse!“ 93<br />

in sogenannte „enge“ <strong>und</strong> „breite Sozialisten“. Die Spaltung stand dabei in keinem<br />

Zusammenhang mit der zeitgleichen Spaltung der russischen Sozialdemokratie in<br />

Bol’ševiki <strong>und</strong> Men’ševiki, denn dort zerstritt man sich über die Frage der Parteiorganisation<br />

– zentralistisch oder nicht –, nicht über Bündnisfragen. Folglich gab es<br />

auch keine wie auch immer geartete ideologische Affinität zwischen bulgarischen<br />

„engen Sozialisten“ <strong>und</strong> russischen Bol’ševiki bzw. zwischen bulgarischen „breiten<br />

Sozialisten“ <strong>und</strong> russischen Men’ševiki. 19 Die bulgarischen Sozialisten beider Couleur<br />

betrachteten die SPD als ihr Identifikationsobjekt, orientierten sich also weder<br />

an Vladimir I. Lenin noch an Julij O. Martov. Dimităr Blagoev, der Führer der Engen,<br />

wies 1910 diesbezügliche Behauptungen Lev D. Trockijs explizit zurück:<br />

Unsere Partei entwickelte <strong>und</strong> entwickelt sich nicht unter Einfluß der russischen Partei,<br />

sondern unter Einfluß der deutschen. Nicht die [bol’ševistische Parteizeitung] Iskra, sondern<br />

die Neue Zeit <strong>und</strong> die deutschen sozialistischen Gedanken bilden einen, lebendigen<br />

Begriff’ für sie. 20<br />

Natürlich ist es auch kein Zufall, dass Blagoev das 1897 gegründete theoretische Organ<br />

seiner Partei in Anlehnung an sein Vorbild Kautsky Novo vreme, „Neue Zeit“,<br />

nannte – ein Name, den das theoretische Organ der Bulgarischen Kommunistischen<br />

Partei noch heute trägt.<br />

In Bulgarien galt Kautsky als einziger legitimer Erbe bzw. Verwalter des Erbes<br />

von Marx <strong>und</strong> Engels, <strong>und</strong> daher war er der mit Abstand am häufigsten ins Bulgarische<br />

übersetzte sozialistische Autor. <strong>Zwischen</strong> 1880 <strong>und</strong> 1916 erschienen auf<br />

Bulgarisch 51 Broschüren <strong>und</strong> Bücher von Kautsky, während Marx selbst nur 21-mal<br />

<strong>und</strong> Engels 17-mal übersetzt wurden. 21 Hinzu kam eine große Zahl von Kautsky-<br />

Übersetzungen in Form von Aufsätzen in der sozialistischen Presse. 22 Bulgarien<br />

war, wie Georges Haupt schreibt, hinsichtlich der sozialistischen Publikationstätigkeit<br />

ein „Sonderfall“: „Bulgarien steht weit an der Spitze [. . . ]: Hier gehören die<br />

sozialistischen Publikationen, die sich durch eine große Vielfalt auszeichnen, zur<br />

Volkskultur.“ 23 Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang auch, dass<br />

fast jeder im öffentlichen Leben des Landes Tätige, egal welcher politischer Richtung,<br />

irgendwann in seinem Leben einmal als Sozialist begonnen hat, der Sozialismus<br />

19 Vg. hierzu Leo van Rossum, „Einleitung“, in: Korrespondenz, S. 13–58, hier S. 52 <strong>und</strong> bes. Anm. 135.<br />

20 Dimităr Blagoev, „Statijata na dr. Trocki“, Rabotničeski vestnik v. 7. September 1910 (Zit. nach van<br />

Rossum, „Einleitung“, S. 18). Gemeint ist ein Artikel Lev D. Trockijs, in dem er unter anderem auf<br />

die Geschichte der bulgarischen Engen einging <strong>und</strong> der später auch auf Deutsch veröffentlicht wurde:<br />

N. Trotzky, „In den Balkanländern“, Der Kampf 4 (1910–1911), Nr. 2. v. 1.11.1910, S. 68–74. – Zu<br />

den Beziehungen der bulgarischen Sozialisten zur Zweiten Internationale 1889–1912 s. die detaillierten<br />

annotierten bibliographischen Beiträge von Živka Kăneva-Damjanova in Izvestija na instituta<br />

po istorija na BKP 47 (1987), S. 297–321; 58 (1987), S. 251–289; <strong>und</strong> 59 (1988), S. 236–270.<br />

21 G. Haupt, „‚Führungspartei‘“?, Tab. 5, S. 20.<br />

22 Els Wagenaar, „Bibliographie der Arbeiten K. Kautsky, veröffentlicht in Südosteuropa“, Korrespondenz,<br />

S. 572–602; Le Mouvement ouvrier bulgare. Publications socialistes bulgares 1882–1918.<br />

Essai bibliographique, hrsg. v. Georges Haupt [et al.]. Paris 1984.<br />

23 G. Haupt, „‚Führungspartei‘“?, S. 16.<br />

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