12.03.2017 Aufrufe

Deutscher Bundestag

1iCXTecQ4

1iCXTecQ4

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – 18. Wahlperiode – 221. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2017 22333<br />

(A)<br />

(B)<br />

Dr. Matthias Bartke (SPD): Das Gesetz, über das wir<br />

heute erstmals beraten, ist das Resultat des Beschlusses<br />

des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Juli 2016. Der<br />

Fall, der hinter diesem Beschluss steht, macht uns nachdenklich.<br />

Wann ist ein Wille nicht mehr frei? Welche<br />

Rolle kann ein Wille noch spielen, wenn der Betroffene<br />

nicht mehr einsichtsfähig ist?<br />

Im Ausgangsverfahren ging es um eine 63-jährige<br />

Frau, die psychisch schwer erkrankt war – eine Mischung<br />

aus Schizophrenie, Manie und Depression. Eine Autoimmunkrankheit<br />

führte zusätzlich zu großflächigen Hautausschlägen<br />

und massiver Muskelschwäche. Im Zuge der<br />

Behandlungen wurde dann auch noch Brustkrebs festgestellt.<br />

Die erkrankte Frau aber war gegen eine Operation<br />

wie auch gegen Bestrahlung. Ihre rechtliche Betreuerin<br />

beantragte deswegen ärztliche Zwangsmaßnahmen zur<br />

Behandlung des Brustkrebses. Es war klar: Ohne ärztliche<br />

Maßnahmen würde sich der Krebs ausbreiten und<br />

letztlich zum Tod der Patientin führen.<br />

Zwangsbehandlungen sind bei psychisch Kranken<br />

grundsätzlich möglich. Sie stehen aber zu Recht unter<br />

sehr engen Voraussetzungen. Dazu zählt, dass nur<br />

zwangsbehandelt werden darf, wer auch zwangsuntergebracht<br />

ist. Diese Zwangsunterbringung hatten die<br />

Gerichte bei der 63-Jährigen aber abgelehnt. Die Frau<br />

war nämlich so krank und schwach, dass sie nicht mehr<br />

weglaufen konnte. Damit erübrigte sich die Zwangsunterbringung<br />

und damit auch die Zwangsbehandlung.<br />

Der Fall ging durch die Instanzen und landete schließlich<br />

vor dem Bundesverfassungsgericht, das sich mit der<br />

Frage befasste: Muss man Bürger vor sich selbst schützen?<br />

Im Juli letzten Jahres hat es die Antwort darauf gegeben:<br />

Unter bestimmten Umständen: Ja.<br />

Die geltende Rechtslage bestimmt Folgendes: Hilfsbedürftige<br />

Menschen, die stationär in einer nicht geschlossenen<br />

Einrichtung behandelt werden und sich nicht aus<br />

eigener Kraft fortbewegen können, dürfen notfalls auch<br />

gegen ihren natürlichen Willen nicht ärztlich behandelt<br />

werden. Das Bundesverfassungsgericht hat beschlossen:<br />

Diese Rechtslage verstößt gegen die Schutzpflicht aus<br />

Artikel 2 Absatz 2 GG. Jeder hat das Recht auf Leben<br />

und körperliche Unversehrtheit.<br />

Das Recht zur Selbstbestimmung umfasst grundsätzlich<br />

auch das Recht auf Krankheit. Der Patient kann Entscheidungen<br />

treffen, die anscheinend unvernünftig sind.<br />

Wenn ich eine lebenserhaltende Therapie ablehne und<br />

mich zum Sterben entschließe, ist das Ausdruck meiner<br />

Selbstbestimmung. Die Voraussetzung dafür ist aber mein<br />

freier Wille. Manche Betreute können keinen freien Willen<br />

mehr bilden. Wegen ihrer psychischen Erkrankung<br />

oder wegen einer seelischen oder geistigen Behinderung<br />

können sie die Notwendigkeit einer ärztlichen Behandlung<br />

nicht erkennen, oder aber sie können nicht nach<br />

dieser Einsicht handeln. So kann eine schwere Demenz<br />

eine Person nicht verstehen lassen, dass eine Operation<br />

lebensrettend ist. Halluzinierte Befehle zur Selbsttötung<br />

können die Selbstbestimmungsfähigkeit aufheben. Eine<br />

schwere Depression kann dazu führen, dass der Erkrankte<br />

keine Entscheidung mehr treffen oder zum Ausdruck<br />

bringen kann.<br />

Es liegt ein großer Unterschied zwischen einer freien<br />

Entscheidung und einer Entscheidung, der es an Einsichtsfähigkeit<br />

fehlt. Lehne ich eine Chemotherapie ab,<br />

weil ich die Qualen der Behandlung bei unsicheren Heilungschancen<br />

nicht in Kauf nehmen will und akzeptiere<br />

ich im Gegenzug meinen Tod, oder lehne ich die Chemotherapie<br />

ab, weil mir die Behandlung qualvoll erscheint<br />

und ich nicht begreife, dass ich ohne sie auf jeden Fall an<br />

dem Krebs sterben werde?<br />

Doch auch wenn Patienten die Konsequenzen ihrer<br />

Weigerung nicht abschätzen können, so haben sie doch<br />

einen natürlichen Willen. Wegen des verfassungsrechtlich<br />

verbürgten Selbstbestimmungsrechts ist auch dieser<br />

Wille grundsätzlich zu beachten. Ein Eingriff in dieses<br />

Recht muss auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen<br />

und verhältnismäßig sein. Ein Handeln gegen den natürlichen<br />

Willen lässt sich nur rechtfertigen, wenn es anderen,<br />

gewichtigeren Rechtsgütern dient.<br />

Bereits in der letzten Legislatur hat der <strong>Bundestag</strong> ein<br />

Gesetz zur Regelung der ärztlichen Zwangsmaßnahmen<br />

beschlossen. Nach der bis dahin geltenden Rechtsprechung<br />

des Bundesgerichtshofs wurde die gesetzliche Regelung<br />

im Paragrafen zur freiheitsentziehenden Unterbringung<br />

gesehen. 2012 entschied der Bundesgerichtshof<br />

dann aber, dass diese Regelung nicht ausreichend war.<br />

Damit gab es keine Zwangsbefugnisse zur Durchsetzung<br />

notwendiger medizinischer Maßnahmen mehr. Betroffenen<br />

drohte ein schwerwiegender gesundheitlicher Schaden<br />

oder sogar der Tod. Der <strong>Bundestag</strong> beschloss daher<br />

ein neues Gesetz, dass die bis dahin geltende Rechtslage<br />

möglichst nah abbildete. Dazu zählte, dass eine Zwangsbehandlung<br />

nur im Rahmen einer Unterbringung erfolgen<br />

kann. Wie die Unterbringung bedurfte damit auch die<br />

Zwangsbehandlung der gerichtlichen Genehmigung und<br />

unterlag denselben strengen verfahrensrechtlichen Anforderungen.<br />

Die Regelung sollte ganz bewusst nur für<br />

untergebrachte Personen gelten, um den Grundrechtseingriff<br />

möglichst zu minimieren. Auch die SPD-Fraktion<br />

hat daher diesem Gesetz zugestimmt. Tatsächlich führte<br />

diese Regelung nun aber zu der paradoxen Situation,<br />

dass Betroffene untergebracht werden müssen, damit sie<br />

zwangsbehandelt werden können. Das Bundesverfassungsgericht<br />

hat uns die Hausaufgabe mit auf den Weg<br />

gegeben, die festgestellte Schutzlücke unverzüglich zu<br />

schließen. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Der<br />

Gesetzentwurf liegt nun vor.<br />

Die Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme<br />

wollen wir von der freiheitsentziehenden Unterbringung<br />

entkoppeln. Ärztliche Zwangsmaßnahmen werden stattdessen<br />

an das Erfordernis eines stationären Aufenthalts<br />

in einem Krankenhaus gebunden. Die materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen<br />

für die Einwilligung bleiben<br />

ansonsten erhalten. Das Gleiche gilt auch für die strengen<br />

verfahrensrechtlichen Anforderungen. So muss die<br />

ärztliche Zwangsmaßnahme zum Wohl des Betreuten<br />

notwendig sein, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen<br />

Schaden abzuwenden. Der Betreute muss<br />

einwilligungsunfähig sein. Ein in einer Patientenverfügung<br />

zum Ausdruck gebrachter oder mutmaßlicher Wille<br />

des Betreuten darf der Zwangsmaßnahme nicht entgegenstehen.<br />

Es muss – ohne Druck und mit der notwendi-<br />

(C)<br />

(D)

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!