Deutscher Bundestag
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<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – 18. Wahlperiode – 221. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. März 2017<br />
(A)<br />
(B)<br />
gen Zeit – mindestens ein Überzeugungsversuch gemacht<br />
worden sein. Der drohende gesundheitliche Schaden<br />
darf durch keine andere weniger belastende Maßnahme<br />
abgewendet werden können. Außerdem muss der zu erwartende<br />
Nutzen die zu erwartenden Beeinträchtigungen<br />
deutlich überwiegen.<br />
Vor allem mit dem Verweis auf die Patientenverfügung<br />
bzw. den mutmaßlichen Willen wird klargestellt,<br />
dass der Wille des Betreuten unbedingt Beachtung finden<br />
muss. Liegt eine Patientenverfügung vor, muss dieser<br />
Geltung verschafft werden. Kommt keine Patientenverfügung<br />
zum Zug, ist der Betreuer an den mutmaßlichen<br />
Willen des Betreuten gebunden. Dafür muss der Betreuer<br />
konkrete Anhaltspunkte finden: Ausschlaggebend sind<br />
frühere schriftliche oder mündliche Äußerungen, ethische<br />
oder religiöse Überzeugungen und auch sonstige<br />
persönliche Wertvorstellungen. Bei der Suche nach dem<br />
mutmaßlichen Willen muss er auch nahe Angehörige und<br />
sonstige Vertrauenspersonen einbeziehen.<br />
Dieser Weg ist wichtig, um dem Willen des Betreuten<br />
gerecht zu werden. Er ist aber auch aufwendig und wird<br />
nie ganz sicherstellen können, wie der Betreute tatsächlich<br />
zu den ärztlichen Zwangsmaßnahmen steht. Aus diesem<br />
Grund stärken wir mit dem vorliegenden Gesetz auch<br />
die Patientenverfügung. Betreuer sind damit verpflichtet,<br />
auf die Möglichkeit einer Patientenverfügung hinzuweisen<br />
und bei der Errichtung zu unterstützen. Das ist vor<br />
allem dann hilfreich, wenn der Betreute nach einer Phase<br />
der Einwilligungsunfähigkeit wieder einwilligungsfähig<br />
ist. Für den Fall einer erneuten Einwilligungsunfähigkeit<br />
kann der Betreute dann festlegen, welche Behandlungen<br />
vorzunehmen und welche zu unterlassen sind.<br />
Auch zukünftig dürfen ärztliche Zwangsmaßnahmen<br />
nur das letzte Mittel sein, das bei drohender erheblicher<br />
Selbstgefährdung in Betracht kommt. Wir gehen damit<br />
den schmalen Grat zwischen Selbstbestimmungsrecht<br />
und Schutz der Betroffenen. Ich denke, wir haben eine<br />
gute Lösung gefunden.<br />
Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Wie im Gesetzentwurf<br />
der Bundesregierung zutreffend festgestellt wird,<br />
gibt der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom<br />
26. Juli 2016 Anlass zur Änderung des Betreuungsrechts.<br />
Die Koppelung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme an<br />
eine freiheitsentziehende Unterbringung führt zu der<br />
Situation, dass es Fallkonstellationen gibt, in denen außerhalb<br />
einer geschlossenen Unterbringung keine Möglichkeit<br />
besteht, einen Menschen gegen seinen Willen<br />
ärztlich zu behandeln, selbst wenn schwerste Gesundheitsschäden<br />
drohen.<br />
Infolgedessen hat das Bundesverfassungsgericht dem<br />
Gesetzgeber aufgegeben, unter Berücksichtigung der<br />
Schutzpflicht des Staates, die sich aus Artikel 2 Absatz 2<br />
Satz 1 des Grundgesetzes – „Jeder hat das Recht auf Leben<br />
und körperliche Unversehrtheit – eine Regelung zu<br />
treffen, um diese Schutzlücke zu schließen. Dazu ist es,<br />
wie der Gesetzentwurf anführt, in der Tat erforderlich,<br />
die Einwilligung in die ärztliche Zwangsbehandlung von<br />
der freiheitsentziehenden Unterbringung abzukoppeln,<br />
wobei immer zu beachten ist, dass staatliche Eingriffe<br />
in Grundrechte nur als Ultima Ratio und so gering wie<br />
möglich erfolgen dürfen. Ob dies hier der Fall ist, müssen<br />
die Beratungen zeigen.<br />
Nach den vorgeschlagenen Regelungen sind vor einer<br />
Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Behandlung<br />
gegen den Willen des Betreuten insgesamt sieben Voraussetzungen<br />
kumulativ zu erfüllen, bevor der Betreuer<br />
zu der Einwilligung die zusätzlich erforderliche Genehmigung<br />
des Betreuungsgerichts einholen kann.<br />
Einerseits erspart die vorgeschlagene Regelung dem<br />
Betroffenen die zusätzlich belastende geschlossene Unterbringung,<br />
andererseits besteht die Gefahr, dass die<br />
vorgeschlagene Neuregelung quasi die Tür zur Akzeptanz<br />
von ambulanten Behandlungen gegen den Willen<br />
des Betroffenen werden kann. Solche Behandlungen waren<br />
und sind aber nicht gewollt. Von daher ist dies äußerst<br />
kritisch zu betrachten.<br />
Sehr schön ist, dass in dem nun vorgeschlagenen<br />
§ 1906 a BGB auch als Voraussetzung gefordert wird,<br />
dass „zuvor ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und<br />
ohne Ausübung unzulässigen Drucks versucht wurde, den<br />
Betreuten von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme<br />
zu überzeugen“, während in der geltenden Regelung<br />
des 1906 BGB nur von dem Versuch der Überzeugung<br />
gesprochen wird. Auf dieses dringende Erfordernis hat<br />
die Linke bereits vor mehr als vier Jahren hingewiesen.<br />
Es soll – so ergibt es sich aus dem Gesetzestext bzw.<br />
aus der Begründung – kein Erfüllungsaufwand entstehen,<br />
weder für den Staat noch für die Bürger noch für die Wirtschaft.<br />
Oder anders gesagt: Es bleibt bei den geltenden<br />
Kostenregelungen im Gesundheitswesen, wobei wir aus<br />
früheren Beratungen spätestens seit 2012 wissen, dass es<br />
Einrichtungen gibt, die offenbar auf Zwangsbehandlungen<br />
in Gänze verzichten können, eben weil sie mit dem<br />
nötigen Zeitaufwand und ohne Druck die Betroffenen<br />
von der Notwendigkeit der ärztlichen Hilfe überzeugen.<br />
Dies kostet Zeit; es kostet Nerven, und es kostet Geld.<br />
Kosten, die, wie wir alle wissen, aufgrund der Kostenregelungen<br />
des Gesundheitssystems nicht von der Kasse in<br />
dem erforderlichen Umfang erstattet werden.<br />
Hier muss in diesem Kontext auch nachgebessert werden.<br />
Insbesondere ist die Linke der Auffassung, dass es<br />
sich bei der notfalls einzuwilligenden Zwangsbehandlung<br />
nicht um die Behandlung der Anlasserkrankung<br />
handeln darf. Denn Psychopharmaka heilen nicht; sie<br />
stellen ruhig. Die Nebenwirkungen von Psychopharmaka<br />
sind – das ist unbestritten – ganz erheblich. Aber insofern<br />
dürfte eine solche Behandlung schon an den genannten<br />
Voraussetzungen scheitern. Besser wäre es allerdings<br />
dies ausdrücklich ins Gesetz aufzunehmen.<br />
Keinesfalls darf suggeriert werden, dass diese Regelung,<br />
so sie denn verabschiedet werden sollte, Spielräume<br />
für ambulante Zwangsbehandlungen eröffnet. Allerdings<br />
ist, wenn die Voraussetzung der Behandlung nach<br />
dem neuen § 1906a Absatz 1 Nummer 4 BGB ernst genommen<br />
wird, eine Zwangsbehandlung so gut wie nicht<br />
mehr erforderlich. Man muss sich aber auch die Zeit für<br />
den Patienten nehmen.<br />
(C)<br />
(D)