22.09.2017 Aufrufe

Flexibilität

Credit Suisse bulletin, 1999/01

Credit Suisse bulletin, 1999/01

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

SCHWERPUNKT<br />

19<br />

«MEHR ALS EINMAL HABE ICH<br />

GEWEINT»<br />

<strong>Flexibilität</strong> hat viele Facetten. Doch selten<br />

zuvor hat sich das vielgebrauchte Schlagwort<br />

von einer so konkreten Seite gezeigt<br />

wie an diesem Nachmittag im zürcherischen<br />

Rüschlikon, im Zirkuszelt von «Valentinas<br />

Variété».<br />

«Wollen die wirklich nichts Schwierigeres<br />

sehen ?», scheinen sich die zwei jungen<br />

Mongolinnen zu sagen. Also legen sich die<br />

beiden der Fotografin zuliebe wieder auf<br />

den Bauch, ziehen die Beine über ihren<br />

Rücken nach vorne als wären sie aus<br />

Gummi, stellen die Füsse neben den Kopf<br />

und blicken etwas gelangweilt in die Runde.<br />

Etwa so, wie Gleichaltrige in Dutzenden<br />

von Schulzimmern auf irgendwelche<br />

Mathe-Formeln schauen. Die 15jährige<br />

Uranbileg Ceveendory und die zwei Jahre<br />

ältere Erdensuvd Ganbaatar winden aber<br />

nicht ihr Gehirn, sondern ihre Körper.<br />

Schlangenfrauen nennt man sie im Alltag,<br />

Kontorsionistinnen in der Zirkuswelt.<br />

Professionell zeigen die Frauen mit<br />

den Kautschukknochen die verschiedenen<br />

Figuren ihres Programms und lächeln.<br />

Richtig stolz wirken sie aber erst bei Nummern,<br />

die jedem Zuschauer ein ungemütliches<br />

Gefühl in die Wirbelsäule jagen würden.<br />

Etwa da, wo sie in einen gepolsterten<br />

Metallhalter beissen, mit dem Kopf nach<br />

unten ihren Körper langsam hochziehen<br />

und dabei die unglaublichsten Verrenkungen<br />

zustande bringen – freihändig natürlich.<br />

In solchen Momenten geht jeweils ein<br />

leises Raunen durchs Zelt. Verständlich,<br />

dass der Zirkusdirektor die beiden Jungstars<br />

als Schlussnummer auftreten lässt.<br />

Zehn Minuten später. Die wirbellosen<br />

Damen haben ihr gelbes Glitzerkostüm<br />

abgestreift. Sie stehen nun in Jeans, Pullover<br />

und Daunenjacke da. Ihre dünnen<br />

Finken haben sie durch klobige Schuhe<br />

mit Plateausohlen ersetzt. Nichts unterscheidet<br />

sie nun von anderen Teenagern.<br />

In der Mongolei, erklärt der Übersetzer, sei<br />

es nichts Aussergewöhnliches, dass junge<br />

Leute den Weg in die Manege fänden.<br />

Auch er ist Mongole, auch er verdient<br />

seine Brötchen als Artist. «Alle lieben den<br />

Zirkus in unserer Heimat», fährt er fort.<br />

Eltern schickten ihre Kinder in Zirkusschulen<br />

wie bei uns ins Ballett oder Kunstturnen.<br />

«Ich versuchte vor dem Fernseher,<br />

die Übungen der Artistinnen nachzumachen»,<br />

erzählt die 17jährige Erdensuvd<br />

kichernd. Eine Woche später begleitete<br />

sie ihr Vater in die Zirkusschule. Das war<br />

vor sieben Jahren. Bis zu den gekonnt vorgetragenen<br />

Nummern war es ein langer<br />

Weg. Morgens Schule, nachmittags Training.<br />

Jahrelang. Nur so wird der Körper<br />

dermassen beweglich. Vor allem der Anfang<br />

sei hart, die Übungen streng. «Mehr<br />

als einmal habe ich geweint», sagt Uranbileg.<br />

Sie stieg als Siebenjährige in ihr<br />

Metier ein.<br />

Schmerzen ? Beide verneinen. Aber ihre<br />

biegsamen Glieder verzeihen keine Ruhepause.<br />

Flexible Körper wollen gebogen<br />

sein; vier Stunden tägliches Training sind<br />

ein Muss. Das ist zurzeit gar nicht so einfach.<br />

Die Artistinnen leben auf dem Zirkuscamp<br />

und müssen ohne warme Halle auskommen.<br />

Darum schleichen sie sich, wenn<br />

die letzten Zuschauer gegangen sind,<br />

abends wieder ins geheizte Zelt und holen<br />

das Training nach. Und doch: Bei allem<br />

Drill haben die beiden dehnbaren Geschöpfe<br />

das Träumen nicht verlernt. Uranbileg<br />

würde gerne Schauspielerin werden,<br />

Erdensuvd Sängerin. Das sind nicht nur<br />

jugendliche Sehnsüchte, darin steckt auch<br />

eine Portion Realismus: Sie wissen, dass<br />

niemand ein Leben lang Kontorsionistin<br />

sein kann. Auch Gummi wird mit der Zeit<br />

spröde.<br />

PASQUALE FERRARA<br />

CREDIT SUISSE BULLETIN 1 |99

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!