Flexibilität
Credit Suisse bulletin, 1999/01
Credit Suisse bulletin, 1999/01
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SCHWERPUNKT<br />
22<br />
«DIE IDENTITÄT IST<br />
KEIN RUCKSACK»<br />
«Gibt man Wasser in eine Schüssel und<br />
lässt es lange Zeit stehen, so beginnt es<br />
zu stinken», sagt die Frau mit den dunklen,<br />
ausdrucksvollen Augen und dem herzhaften<br />
Lachen. Wie abgestandenes Wasser<br />
hört sich die Lebensgeschichte dieser<br />
Iranerin wahrhaftig nicht an, schon eher<br />
wie ein junger Bergbach, der unaufhaltsam<br />
und an manchen Hindernissen vorbei<br />
ins Tal schiesst.<br />
Bereits in jungen Jahren zog es Sudabeh<br />
Kassraian nach Teheran. Dort arbeitete<br />
sie der Reihe nach als Primarlehrerin,<br />
Kindergärtnerin und Buchhalterin. Im Jobsharing<br />
mit ihrem Mann, einem Kunstmaler,<br />
managte sie nebenbei den Haushalt<br />
und zog ihre Tochter auf. Wie andere aufgeschlossene<br />
Bürger ihres Landes engagierten<br />
sich die Kassraians in der Politik.<br />
«In diesem Land, in dem man kaum atmen<br />
kann, kämpften wir für mehr Freiheit.» Als<br />
sie selbst keine Luft mehr zum Atmen<br />
kriegten, weil sich der Kreis aus Repression<br />
immer enger um sie zog, verliessen<br />
sie das Land. Dies war vor zehn Jahren.<br />
Von der Schweiz hatten sie nur in<br />
Büchern oder Zeitungen gelesen. Nun<br />
waren sie plötzlich hier angelangt, auf dem<br />
Flughafen Zürich-Kloten. «Mir fiel die perfekte<br />
Organisation auf und die allerorten<br />
vorherrschende Sauberkeit.» Im bernischen<br />
Schwarzenburg, ihrer ersten Destination,<br />
hatte Frau Kassraian Gelegenheit,<br />
ihren anfänglichen Eindruck von der neuen<br />
Heimat zu vertiefen. Vieles war neu für<br />
sie, doch löste der abrupte Wechsel in ihr<br />
keinen Schock aus. Die Zeit im Iran hatte<br />
wie eine Lebensschule in Sachen <strong>Flexibilität</strong><br />
gewirkt. Die erworbene Beweglichkeit<br />
kam Sudabeh Kassraian im Schweizer<br />
Alltag nun zu Hilfe. Mit Eifer machte sie<br />
sich daran, dessen Geheimnisse zu entwirren.<br />
Zuerst war die deutsche Sprache an<br />
der Reihe. Bald einmal war ihr das neue<br />
Idiom so geläufig, dass sie sich für weitere<br />
Taten gerüstet fühlte. In Schwarzenburg<br />
traf sie auf viele Emigranten, und noch auf<br />
viel mehr Emigrantinnen, die sich nicht so<br />
leicht in ihrer neuen Umgebung bewegten.<br />
«Ich wollte die Mauer durchbrechen, die<br />
diese Leute von der Schweizer Gesellschaft<br />
trennte.» So begann sie, Tamilinnen<br />
in Deutsch zu unterrichten. Nach mehreren<br />
Anläufen erhielt sie von der Gemeinde<br />
finanzielle Unterstützung. Schon bald<br />
stürzte sie sich in weitere Projekte für die<br />
Sache der Emigrantinnen, zuerst beim<br />
christlichen Friedensdienst, dann beim<br />
Roten Kreuz. Und in Bern drückte sie<br />
nochmals für sechs Monate die Schulbank,<br />
um sich als Bibliothekarin ausbilden<br />
zu lassen. Unterdessen war ihr Haushalt<br />
auf vier Personen angewachsen.<br />
Ihr mutiger Sprung in den Schweizer<br />
Alltag hinein hat nicht nur die Anpassung<br />
an ihre neue Umgebung beschleunigt,<br />
sondern auch den Blick für das Leben in<br />
diesem Land geschärft. «In meiner Heimat<br />
pflegen die Menschen einen herzlichen<br />
Kontakt untereinander. Jede Nachbarin,<br />
jeder Freund sind für einen da, wenn man<br />
mal nicht mehr weiter weiss. In der<br />
Schweiz dagegen sind die Leute zwar unabhängiger;<br />
viele, vor allem die Alten, sind<br />
aber auch einsamer.» Sudabeh Kassraians<br />
Worte widerhallen dumpf an der nackten<br />
Betondecke ihres neuen Domizils in der<br />
Berner Agglomeration. «Man darf von niemandem<br />
verlangen, dass er seine eigene<br />
Identität wie einen Rucksack ablegt», sinniert<br />
die couragierte Frau über die Grenzen<br />
der Integration. Sie selber werde immer<br />
Iranerin bleiben. Und dennoch könne<br />
sie flexibel sein, sich gegenüber der neuen<br />
Kultur öffnen, sich diejenigen Facetten<br />
und Werte zu eigen machen, die ihr zusagten.<br />
Dazu zählt sie das selbstbewusste<br />
Auftreten vieler Schweizerinnen. «Iranische<br />
Frauen sind weit weniger emanzipiert.»<br />
Ihre Augen leuchten auf, als sie<br />
dies ausspricht. Eines Tages, so meint sie,<br />
möchte sie diese Saat auch in ihrer Heimat<br />
aufgehen lassen. Eines Tages.<br />
ANDREAS THOMANN<br />
CREDIT SUISSE BULLETIN 1 |99