Flexibilität
Credit Suisse bulletin, 1999/01
Credit Suisse bulletin, 1999/01
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SCHWERPUNKT<br />
21<br />
Ein täglicher Hochseilakt zwischen Familie<br />
und Arbeitswelt findet in einem Einelternhaushalt<br />
in der Luzerner Gemeinde<br />
Eschenbach statt.<br />
«Hallo, Mami, bin wieder da-h-a!», tönt’s<br />
aus dem Korridor der adretten Viereinhalbzimmerwohnung.<br />
Der sechsjährige<br />
Claudio, ein Wirbelwind der Sonderklasse,<br />
stürmt in die säuberlich aufgeräumte Stube.<br />
«Wenn er nach dem Chindsgi nach Hause<br />
kommt, sprudelt er los», lacht seine Mutter,<br />
«da muss ich alles andere sofort beiseite<br />
legen.»<br />
Claudio ist momentan der einzige Mann<br />
an Silvia Pilottis Seite. Und mit seinem<br />
quirligen Wesen ist er ganz die Mutter.<br />
«Am liebsten manage ich alles alleine und<br />
habe sieben Eisen gleichzeitig im Feuer»,<br />
erzählt sie und schenkt den Besucherinnen<br />
Kaffee nach. Und ihrem Naturell entsprechend,<br />
so Silvia Pilotti, habe sie sich<br />
auch in der Liegenschaftenverwaltung<br />
selbständig gemacht. Denn da läuft immer<br />
was: Ein Mieter will zügeln, beim nächsten<br />
tropft der Wasserhahn, der dritte will eine<br />
Spülmaschine – und alles soll sofort passieren.<br />
Ja, sie sei schon sehr belastbar,<br />
meint sie, und das habe ihr vor sechs Jahren<br />
die Gewissheit gegeben, dass sie das<br />
Leben als Alleinerziehende werde meistern<br />
können. Zweifelsohne: Sie kann es.<br />
«16-Stunden-Tage sind für mich heute<br />
keine Ausnahme», meint sie mit einem<br />
«AUCH MAL FÜNF<br />
GERADE SEIN<br />
LASSEN»<br />
Achselzucken. Von halb sieben bis spät in<br />
die Nacht ist die 35jährige auf Draht. Und<br />
dabei ist <strong>Flexibilität</strong> eine Selbstverständlichkeit.<br />
«Anders könnte ich nicht blitzschnell<br />
von einer Arbeitswelt in die andere<br />
hüpfen». Und das muss sie, bei ihrem<br />
Tagesablauf: Zuerst Frühstückmachen für<br />
den Jungen, nachher vormittags der Marketingjob<br />
in einer Informatikfirma, dann zu<br />
Hause hurtig einen Zmittag auf den Tisch<br />
zaubern. Danach die Nachmittagsarbeit zu<br />
Hause als Liegenschaftenverwalterin,<br />
später der Haushalt, das Nachtessen,<br />
schliesslich noch ein bisschen basteln<br />
oder spielen mit dem Junior. Und wenn<br />
dieser schläft, klemmt sie sich nochmals<br />
zwei Stunden hinter die Büroarbeit.<br />
Soviel zur Pflicht. Und wer glaubt, das<br />
sei’s gewesen, hat weit gefehlt. Jetzt kommt<br />
nämlich die Kür. Als Mitglied im Zentralvorstand<br />
des Schweizerischen Verbands<br />
alleinerziehender Mütter und Väter in Bern<br />
krempelt Silvia Pilotti zusätzlich für andere<br />
die Ärmel hoch – ehrenamtlich, versteht<br />
sich. «Es ist so wichtig, Einelternhaushalte<br />
besser in die Gesellschaft einzugliedern»,<br />
rechtfertigt sie ihren Frondienst. Ausserdem<br />
habe sie durch dieses Engagement<br />
viel in Sachen Management und im Umgang<br />
mit Menschen gelernt. «Mit unserem<br />
Fonds für Stipendien greifen wir Alleinerziehenden<br />
in knappen finanziellen Verhältnissen<br />
oder ohne Ausbildung unter die<br />
Arme. Sie sollen sich beruflich aus- und<br />
weiterbilden und eine eigene finanzielle<br />
Existenz aufbauen können, damit sie nicht<br />
mehr vom Sozialamt abhängig sind.» Denn<br />
klar ist: Wer nichts gelernt hat, krampft ein<br />
Leben lang und bringt es dennoch nie auf<br />
einen grünen Zweig.<br />
Dass zuweilen etwas Unvorhergesehenes<br />
geschieht, hat das Leben so an sich.<br />
Die grosse Kunst ist eben, gut zu organisieren,<br />
ohne an sturen Plänen festzuhalten<br />
– und vor allem, berechenbare<br />
Stressmomente auszuräumen. «Ich habe<br />
zum Beispiel eine spezielle Zusatzversicherung<br />
abgeschlossen, die mir eine<br />
professionelle Krankenschwester zahlt,<br />
wenn mein Bub einmal im Bett bleiben<br />
muss», berichtet Silvia Pilotti. Aber trotz<br />
aller Betreuungsvorkehrungen: Als einmal<br />
alle Stricke rissen, hat sie kurzerhand dem<br />
Kleinen das Rucksäckli gepackt und ihn<br />
einfach ins Büro mitgenommen.<br />
Stärke braucht’s, stets ein Quentchen<br />
Nonchalance und eine gesunde Selbsteinschätzung<br />
– sonst läuft man Gefahr,<br />
den eigenen Karren zu überladen. Aber<br />
mit Verlaub, schliesst die junge Frau<br />
selbstbewusst, bei aller <strong>Flexibilität</strong> bleibe<br />
sie stets ihrer Linie treu. «Wäre ich zu<br />
anpassungsfähig, ginge ich vermutlich an<br />
meinem Alltag kaputt.»<br />
BETTINA JUNKER<br />
CREDIT SUISSE BULLETIN 1 |99