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Flexibilität

Credit Suisse bulletin, 1999/01

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SCHWERPUNKT<br />

20<br />

«AM LIEBSTEN<br />

SPIELE ICH DEN FIESEN SCHUFT»<br />

Den Mephisto ? Eher wohl gäbe er den<br />

perfekten Romeo. Schön, charmant, leidenschaftlich<br />

– so tritt er auf. Die Entourage<br />

in jenem Lausanner Bistro, wo er<br />

sich für ein Interview am Samstagnachmittag<br />

in Szene setzt, macht sich jedenfalls<br />

hervorragend als Kulisse für seine<br />

Gastvorstellung. Und wenn er so bei einem<br />

Gläschen Weissen zum Erzählen ansetzt<br />

und mit feuriger Gestik von seinem<br />

Schauspielmetier schwärmt, als wär’s die<br />

ganz grosse Liebe, fehlt nur noch das<br />

Rampenlicht. Edmond Vullioud ist nicht<br />

nur im Theater eine wahrlich spektakuläre<br />

Erscheinung.<br />

Zurzeit arbeitet der Berufsmime am<br />

Théâtre de Carouge in Genf und steht dort<br />

als Hauptdarsteller in zahlreichen Stücken<br />

von Voltaire bis Steinbeck auf der Bühne.<br />

Ein hartgesottener Profi in Sachen Wandelbarkeit<br />

– zweifelsohne. «<strong>Flexibilität</strong> ist<br />

das Herzstück der Schauspielerei. Die<br />

Rollenwechsel verlangen, dass ich mich<br />

immer wieder auf andere Charaktere einstelle.»<br />

Und das ist nicht ohne. Der leichtfüssige<br />

Domestik aus einer Komödie von<br />

Molière, der blasierte Aristokrat aus dem<br />

18. Jahrhundert oder ein hemdsärmeliger<br />

Proletarier aus den zwanziger Jahren –<br />

jeder gibt sich anders. Und das Rollenspiel<br />

will gelernt sein. «Viel dabei ist Technik.<br />

Ich beobachte die Leute auf der Strasse,<br />

in Restaurants und versuche nachher,<br />

ihre Bewegungen und ihre Sprache zu<br />

imitieren.» Dass da zuweilen Alltag und<br />

Bühne durcheinandergeraten, ist Künstlerpech.<br />

Während im Theater das Vorgaukeln<br />

Methode hat, erhebt die Lebenspartnerin<br />

Anspruch auf Aufrichtigkeit.<br />

«Zugegeben: Wenn ich mit meiner Frau<br />

streite, klingt das bei mir immer leicht<br />

theatralisch. Und ich habe mich auch<br />

schon ertappt, wie ich nach einer Wortsalve<br />

fand: ‹Das hat jetzt wirklich echt<br />

getönt.›»<br />

Kein Schauspiel ohne Verkleidung. In<br />

der Theaterankleide verleihen Maskenbildner<br />

und Kostümschneider der Figur<br />

den letzten Schliff. Doch selbst mit<br />

Schnallenschuhen, angeklebtem Zwirbelbart<br />

oder weissgepuderter Zopfperücke<br />

gilt die eiserne Regel: Der Schauspieler<br />

wird nie selber zur Figur, die er spielt. Er<br />

schlüpft nur zeitweilig in sie hinein und<br />

macht den Charakter dem Zuschauer<br />

glaubhaft. Ein Schauspieler muss sehr<br />

ausgeglichen sein – <strong>Flexibilität</strong> hin oder<br />

her. Wie sonst könnte er von einer Rolle<br />

in die nächste rutschen, ohne sich dabei<br />

selbst aus den Augen zu verlieren. «Wenn<br />

ich mir bei jeder neuen Rolle die Seele aus<br />

dem Leib reissen müsste, wäre ich lieber<br />

Pöstler geworden – oder Bankangestellter»,<br />

scherzt Vullioud.<br />

Im Gegensatz zum Büroteppich des<br />

Bankers ist die Bühne ein hartes Pflaster.<br />

Wer seine Brötchen als Schauspieler verdienen<br />

will, tingelt zumindest anfangs von<br />

einem Laientheater zum nächsten in der<br />

Hoffnung, wenigstens ein Engagement<br />

als Komparse zu angeln – nur, um drei<br />

Monate später wieder auf der Strasse zu<br />

stehen. Dass ein solches Leben Anpassungsfähigkeit<br />

und Durchhaltewillen erfordert,<br />

liegt auf der Hand. «Früher», erinnert<br />

sich Vullioud, «da musste ich der Arbeit<br />

hinterherreisen. Einmal hatte ich sogar ein<br />

Engagement in Marseille – sechs Stunden<br />

Zugfahrt!» Wer einen solchen Arbeitsweg<br />

auf sich nimmt, kann sich fürwahr flexibel<br />

nennen.<br />

Edmond Vullioud kommt zum letzten<br />

Akt seiner Vorführung. Ebenso wie Mobilität<br />

sei auch geistige <strong>Flexibilität</strong> ein Muss.<br />

Und wenn doch einmal auf der Bühne<br />

plötzlich eine Passage wie weggeblasen<br />

scheint, ist eine schnelle Reaktion gefragt.<br />

«<strong>Flexibilität</strong> heisst für mich in solchen<br />

Momenten auch: ‹Lass Dir einfach was<br />

einfallen, irgendwas – aber schnell!›»<br />

BETTINA JUNKER<br />

CREDIT SUISSE BULLETIN 1 |99

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