Flexibilität
Credit Suisse bulletin, 1999/01
Credit Suisse bulletin, 1999/01
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ECONOMIC RESEARCH<br />
35<br />
Rat der EZB entschieden (siehe auch Box<br />
auf Seite 36). Es gibt nur ein Gremium,<br />
das einen gewissen Einfluss auf die EZB<br />
nehmen kann: der Ecofin, also der Rat der<br />
Finanzminister. Bei den langfristigen Leitlinien<br />
der Währungspolitik hat er ein Wort<br />
mitzureden. So wäre es theoretisch möglich,<br />
dass der Ecofin gegen den Willen der<br />
EZB einen Beschluss fasst – was sehr<br />
unwahrscheinlich ist.<br />
A.T. Was hat es denn überhaupt für einen<br />
Sinn, wenn Politiker versuchen, der EZB<br />
dreinzureden ?<br />
A.L. Es ist das legitime Recht von Politikern,<br />
ihre geldpolitischen Vorstellungen in<br />
der Öffentlichkeit zu diskutieren. Die jetzige<br />
politische Konstellation in der EU wird<br />
dafür sorgen, dass es immer wieder zu<br />
Meinungsverschiedenheiten zwischen einzelnen<br />
Regierungen und der EZB kommen<br />
wird. Denn auf der einen Seite haben wir<br />
mehrheitlich sozialdemokratisch regierte<br />
Länder mit einem gewissen Hang zu<br />
einer eher lockeren, wachstumsorientierten<br />
Geldpolitik, auf der anderen Seite die<br />
EZB, deren Statuten von einem monetaristischen<br />
Geist geprägt sind, mit der Geldwertstabilität<br />
als oberstem Ziel. Wichtig ist<br />
nun, dass die EZB jederzeit unabhängig<br />
entscheiden kann, ob und wie sie auf politische<br />
Diskussionen zu reagieren gedenkt.<br />
A.T. Ist die EZB ein europäisches Abbild der<br />
amerikanischen Zentralbank (Fed) ?<br />
T.S. Es gibt effektiv viele Gemeinsamkeiten<br />
zwischen den beiden wichtigsten<br />
Zentralbanken der Welt. Von der Unabhängigkeit<br />
haben wir bereits gesprochen.<br />
Ähnlichkeiten bestehen aber auch in der<br />
dezentralen Struktur. So sind die zwölf<br />
Fed-Distrikte vergleichbar mit den elf<br />
EWU-Mitgliedsstaaten und ihren nationalen<br />
Notenbanken, wobei letztere ein<br />
grösseres Gewicht haben. Dies zeigt sich<br />
im Abstimmungsprozess: In der EZB haben<br />
alle nationalen Notenbankenchefs<br />
eine Stimme, im Fed nur ein Teil der<br />
Distriktsvertreter. Und Alan Greenspan,<br />
der Fed-Präsident, hat ein Vetorecht. Ich<br />
gehe aber davon aus, dass dieser grössere<br />
Einfluss der nationalen Untereinheiten<br />
in der EZB mit der Zeit zurückgehen wird.<br />
Die gleiche Entwicklung hatte übrigens<br />
auch das Fed durchgemacht. Man sah mit<br />
der Zeit ein, wie wichtig eine zentrale<br />
Führung ist.<br />
A.T. Besteht nicht ein weiterer grosser<br />
Unterschied zu den USA darin, dass jeder<br />
der elf Staaten der EWU eine eigene Wirtschaftspolitik<br />
verfolgt ?<br />
A.L. Der Unterschied ist nicht so gross,<br />
wie man meinen könnte. Denn auch die<br />
amerikanischen Bundesstaaten verfolgen<br />
eine ziemlich eigenständige Wirtschaftspolitik,<br />
etwa im Bereich der Steuern.<br />
Zudem werden sich die EWU-Länder wirtschaftspolitisch<br />
noch stärker aufeinander<br />
zu bewegen.<br />
A.T. Wo sehen Sie mögliche Stolpersteine<br />
für den Euro ?<br />
T.S. Es gibt im wesentlichen zwei Szenarien,<br />
bei denen der Euro ins Straucheln<br />
geraten könnte – beide sind aber nicht<br />
sehr wahrscheinlich. Das eine wäre eine<br />
schlechte wirtschaftliche Entwicklung im<br />
Euroland mit einem massiven Anstieg der<br />
Arbeitslosigkeit. Die einzelnen Staaten<br />
ADRIANO LUCATELLI:<br />
wären versucht oder gezwungen, mit einer<br />
expansiven Fiskalpolitik die Wirtschaft<br />
wieder in Gang zu bringen. Die Folge:<br />
eine Überschreitung der im Stabilitätspakt<br />
definierten Budgetdefizitgrenzen.<br />
A.T. Und das zweite Szenario ?<br />
T.S. In diesem Fall gelänge es den Ländern<br />
nicht, ihre Konjunkturzyklen längerfristig<br />
zu koordinieren. Angenommen, die<br />
deutsche Wirtschaftslokomotive läuft mit<br />
voller Kraft voraus, die spanische dagegen<br />
kommt nicht auf Touren, dann müsste die<br />
EZB gleichwohl die geldpolitische Handbremse<br />
angezogen halten, und Spanien<br />
hätte unter hohen Zinsen zu leiden.<br />
A.T. Was wäre die Folge für den Euro, würde<br />
eines dieser Szenarien eintreffen ?<br />
T.S. Der Worst Case wäre letztlich die<br />
Auflösung der Währungsunion oder das<br />
Austreten einzelner Mitglieder. Dieser Fall<br />
ist aber sehr unwahrscheinlich und im Vertrag<br />
schon gar nicht vorgesehen. Wahrscheinlicher<br />
ist, dass man versuchen würde,<br />
einem Land mit einer angeschlagenen<br />
Wirtschaft mittels Ausgleichszahlungen<br />
über die Runden zu helfen. Oder dass man<br />
die Kriterien des Stabilitätspakts vorübergehend<br />
grosszügiger interpretiert – wie im<br />
Maastricht-Vertrag vorgesehen. Der Preis<br />
dieser Massnahmen wäre zum einen ein<br />
schwächerer Euro und zum andern höhere<br />
Zinsen – als Ausdruck einer höheren<br />
Risikoprämie für alle, die ihr Geld in Euro<br />
anlegen.<br />
A.T. Und die Folgen für die Schweiz ?<br />
A.L. Der Franken würde zur Fluchtwährung.<br />
Es flösse Kapital in die Schweiz,<br />
«DIE EUROPÄISCHE ZENTRALBANK<br />
WIRD PRAGMATISCH VORGEHEN.»<br />
CREDIT SUISSE BULLETIN 1 |99