Industrieanzeiger 09/10.2019
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Werkzeuge die Grenzen der Umformbarkeit<br />
dieser Stähle aus. Diese neuen Umformtechniken<br />
gehen über das hinaus, was Methodenplaner<br />
beim Tiefziehen klassischerweise<br />
umsetzen, wenn in der Simulation oder im<br />
Tryout Umformfehler wie Blechreißer, Faltenbildung,<br />
Oberflächenfehler, Einfallstellen<br />
oder Rückfederung erkannt werden. Dazu<br />
zählen Änderungen der Radien oder der<br />
Niederhaltekräfte ebenso wie gezielte partielle<br />
Änderungen an der Umformgeschwindigkeit<br />
beim Einsatz servoangetriebener<br />
Pressen. Zwei Verfahren haben dabei in den<br />
letzten Jahren für Aufmerksamkeit gesorgt.<br />
Es geht darum, das Material während<br />
der Umformvorgänge dorthin zu bringen,<br />
wo es im Prozess gebraucht wird, hat<br />
Helmar Aßfalg, Geschäftsführer bei Allgaier<br />
das Problem seinerzeit bei der Vorstellung<br />
des Variotempo-Verfahrens auf den Punkt<br />
gebracht.<br />
Variotempo zielt als Umformmethode<br />
darauf, die erreichbaren Umformgrade beim<br />
Kaltumformen hochfester Stähle und Aluminiumlegierungen<br />
zu verbessern. Bei Stahl<br />
funktioniert das Verfahren für Materialien<br />
mit Festigkeiten bis 1200 MPa. In wenigstens<br />
einer der Ziehstufen eines mehrstufigen<br />
Umformprozesses wird dazu eine geteilte<br />
Matrize eingesetzt, wobei ein Matrizenteil<br />
unabhängig vom anderen mit einer anderen<br />
Geschwindigkeit bewegt wird. Damit wird<br />
das Werkstück in definierten Bereichen mit<br />
unterschiedlichen Geschwindigkeiten geformt.<br />
Das verbessert den Materialfluss in<br />
die kritischen Bereiche des Werkstücks, so<br />
dass hochfeste Stahlbauteile mit erstaunlich<br />
hohen Umformgraden erreicht werden.<br />
Das Variotempo-Verfahren lässt sich mit<br />
einem oder mehreren Werkzeugelementen in<br />
einer oder mehreren<br />
Ziehstufen eines<br />
mehrstufigen<br />
Prozesses realisieren.<br />
Wesentlich<br />
ist, dass die<br />
geteilten Matrizen<br />
mit Hilfe der Umform -<br />
simulation gezielt dort angeordnet<br />
werden, wo sie das Fließen des Materials<br />
optimal unterstützen.<br />
Allgaier setzt das Variotempo-Verfahren<br />
in seinem Werk in Oelsnitz für mehrere Bauteile<br />
großer Automobilhersteller ein. Reali-<br />
Variotempo von Allgaier<br />
arbeitet mit geteilten<br />
Matrizen und partiell<br />
unterschiedlichen<br />
Umformgeschwindigkeit<br />
en in einer Ziehstufe. Das<br />
erhöht die Umformgrade<br />
und macht es möglich,<br />
bisher zweiteilige Bauteile<br />
einteilig herzustellen.<br />
Hier ein Beispiel Radhaus.<br />
Bild: Allgaier<br />
siert werden unter anderem ein Radhaus,<br />
ein Teil einer Bodenblechgruppe oder ein<br />
Schiebedachrahmen. Die Vorteile des Verfahrens<br />
gibt das Unternehmen mit Materialeinsparungen<br />
um 40 % und Gewichtseinsparungen<br />
um 60 % gegenüber konventioneller<br />
Bauweise an. Das ergibt sich unter anderem<br />
daraus, dass die höheren Umformgrade<br />
erlauben, bisher zweiteilige, verschweißte<br />
Teile einteilig auszuführen.<br />
Das Material beim Umformen an die<br />
richtigen Stellen zu bringen, ist auch ein Ziel<br />
des Smartform-Verfahrens das Thyssenkrupp<br />
im letzten Jahr vorstellte. „Stauchen<br />
statt Ziehen“ soll dabei die Formabweichungen<br />
durch Rückfederungseffekte minimieren<br />
und so auf Anhieb zu passenden<br />
Bauteilen führen. Nach Thyssenkrupp-Pressesprecher<br />
Mark Stagge ist das Verfahren<br />
für hochfeste Stähle mit Festigkeiten bis<br />
1200 MPa konzipiert. Ausgangspunkt ist<br />
die Überlegung, dass beim Tiefziehen Material<br />
in die Umformbereiche nachfließen<br />
muss und ergo ausdünnt. Wanddickenreduzierungen<br />
aber verstärken den Rückfederungseffekt.<br />
Das Verfahren beginnt mit einem nahezu<br />
passgenauen Beschnitt der Platinen, an der<br />
in der Presse zunächst der Boden vorgeprägt<br />
und anschließend die Vorform erstellt wird.<br />
Bei der Vorform spielt dabei die Rückfederung<br />
keine Rolle. Im entscheidenden Prozessschritt<br />
wird diese u-förmige Vorform<br />
kalibriert, wobei eine Art Schieber über die<br />
Bauteilkante Druckspannungen in die Vorform<br />
einbringt. Damit fließt mehr Material<br />
in die Umformzonen, sodass das Bauteil<br />
seine Endgeometrie nahezu ohne Rückfederungseffekte<br />
erhält.<br />
Das endkonturnahe Beschneiden verringert<br />
nach Thyssenkrupp den Materialeinsatz<br />
um bis zu 15 % und reduziert über eine<br />
längere Einsatzdauer die Material-, Entsorgungs-<br />
und Energiekosten. Prinzipiell sei das<br />
Verfahren für unterschiedliche Bauteile der<br />
Fahrzeugstruktur geeignet. Die Smartform-<br />
Werkzeuge sind mit jeder Standardanlage<br />
kompatibel. Aktuell sei das Smartform-Verfahren<br />
bei einem großen Automobilhersteller<br />
in Deutschland für verschiedene Strukturteile<br />
der nächsten Fahrzeuggeneration in<br />
Erprobung.<br />
Wie die hochfesten kaltgeformten Karosserieteile<br />
am Mazda 3 hergestellt sind, haben<br />
die Entwickler aus der Kooperation von<br />
Mazda, Nippon Steel & Sumitomo Metal<br />
und JFE Steel Corporation nicht veröffentlicht.<br />
Aber die kaltgeformten hätten 3 kg<br />
Gewicht gegenüber dem Vorgängermodell<br />
eingespart. Insgesamt liegt der Anteil an<br />
hochfesten Stählen im Mazda 3 bei 60 %<br />
und an ultrahochfesten Stählen bei 30 %.<br />
Volker Albrecht<br />
Fachjournalist in Bamberg<br />
Mit kaltgeformten, hochfesten<br />
Stahlbauteile mit einer<br />
Festigkeit von 1310 MPa im<br />
Mazda 3 wird die Grenze der<br />
Kaltumformbarkeit hochfester<br />
Stähle deutlich nach oben<br />
verschoben. Bild: Mazda<br />
<strong>Industrieanzeiger</strong> <strong>09</strong>/10.19 67