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PIPER Reader Herbst 2024

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102<br />

THOMAS SCHLESSER<br />

LESEPROBE<br />

LESEPROBE<br />

Alles wurde dunkel. Wie Trauerkleidung. Dann hier<br />

und da ein Aufblitzen nach Art der Flecken, die die<br />

Sonne verursacht, wenn die Augen hinter geschlossenen<br />

Lidern vergeblich auf sie starren, so wie man<br />

die Faust ballt, um einen Schmerz oder ein Gefühl<br />

auszuhalten.<br />

Natürlich hatte sie das völlig anders beschrieben. Im<br />

Mund einer unbefangenen, besorgten Zehnjährigen<br />

klingt die Verzweiflung knapp, ohne Schnörkel und<br />

Überschwang.<br />

»Mama, alles ist dunkel!«<br />

Mona hatte diese Worte mit erstickter Stimme hervorgebracht.<br />

Eine Klage? Ja, aber nicht nur. Ohne dass sie<br />

es wollte, hatte sich ein Anflug von Scham eingeschlichen,<br />

was ihre Mutter immer sofort ernst nahm. Wenn<br />

es etwas gab, das Mona nie vortäuschte, war es Scham.<br />

Kaum schlich sie sich in ein Wort, eine Haltung oder<br />

einen Tonfall, war die Situation wie verhext: Eine unangenehme<br />

Wahrheit hatte sich eingenistet.<br />

»Mama, alles ist dunkel!«<br />

Mona war blind.<br />

Dafür schien es keinen Grund zu geben. Es war nichts<br />

Besonderes vorgefallen. An einer Ecke des Tisches,<br />

auf dem ihre Mutter einen saftigen Braten mit Knoblauch<br />

spickte, saß sie brav über ihren Matheaufgaben,<br />

einen Stift in der rechten Hand, ein Heft unter der linken.<br />

Mona zog gerade vorsichtig einen Anhänger von<br />

ihrem Hals, der sie störte, weil sie die schlechte Angewohnheit<br />

hatte, mit krummem Rücken zu schreiben,<br />

und er über ihrem Übungsblatt baumelte. Sie spürte,<br />

wie sich ein schwerer Schatten auf ihre Augen legte,<br />

als würden sie dafür bestraft, so blau, so groß und<br />

so klar zu sein. Der Schatten kam nicht von außen,<br />

so wie sonst, wenn es dunkel wird oder die Lichter<br />

in einem Theater erlöschen; der Schatten griff aus<br />

ihrem eigenen Körper, von innen heraus nach ihrem<br />

Augenlicht. In ihr hatte sich ein undurchdringlicher<br />

Nebelteppich ausgebreitet, der sie von den Vielecken<br />

in ihrem Schulheft trennte, dem braunen Holztisch,<br />

dem ein Stück weiter weg stehenden Braten, von ihrer<br />

Mutter mit der weißen Schürze, der gefliesten Küche,<br />

von ihrem Vater, der im Nebenzimmer saß, von der<br />

Wohnung in Montreuil und dem gräulichen <strong>Herbst</strong>himmel,<br />

der über den Straßen hing, von der ganzen<br />

Welt. Wie durch einen Zauber tauchte das Kind ins<br />

Dunkel ein.<br />

Hektisch rief Monas Mutter den Hausarzt an. Sie beschrieb<br />

wirr die verschleierten Pupillen ihrer Tochter<br />

und ergänzte, weil der Arzt sie danach fragte, dass sie<br />

keine Sprachstörung oder Lähmungserscheinungen<br />

habe.<br />

»Das sieht nach einer TIA aus«, sagte er, ohne sich<br />

weiter zu erklären.<br />

Fürs Erste verordnete er eine hohe Dosis Aspirin und<br />

vor allem Monas sofortige Einweisung ins Hôpital<br />

de l’Hôtel-Dieu, wo er einen Kollegen anrufen wolle,<br />

damit sie sofort behandelt werden könne: Er sei ein<br />

hervorragender Kinderarzt, noch dazu ein ausgezeichneter<br />

Augenspezialist und nebenbei ein begabter<br />

Hypnotherapeut. Normalerweise, schloss er, werde<br />

die Blindheit nicht länger als zehn Minuten anhalten,<br />

dann legte er auf. Seit dem ersten Alarm war schon<br />

eine Viertelstunde vergangen.<br />

Im Auto weinte Mona und hämmerte sich an die<br />

Schläfen. Ihre Mutter hielt ihre Ellbogen fest, hätte<br />

aber im Grunde ihres Herzens am liebsten auch gegen<br />

den runden, zerbrechlichen kleinen Kopf gehämmert,<br />

so wie man auf eine defekte Maschine einhämmert und<br />

vergeblich darauf hofft, dass sie wieder anspringt. Der<br />

Vater, am Steuer ihres klapprigen alten Volkswagens,<br />

wollte sich einen Reim auf die Krankheit machen, von<br />

der seine Tochter befallen war. Er war wütend, weil er<br />

meinte, in der Küche sei etwas vorgefallen, das man<br />

ihm verheimlichte. Immer wieder ging er die möglichen<br />

Ursachen durch – ein Dampfschwall, ein übler<br />

Sturz? Aber nein, Mona erklärte schon zum hundertsten<br />

Mal: »Das ist ganz von allein gekommen!«<br />

Und der Vater glaubte ihr nicht: »Man wird doch<br />

nicht einfach so blind!«<br />

Doch, man konnte auch »einfach so« erblinden, das<br />

war der beste Beweis dafür. Und heute war dieses man<br />

Mona, mit ihren zehn Jahren und ihren Tränen der<br />

Angst – Tränen, von denen sie sich an diesem Oktobersonntag,<br />

während es Abend wurde, vielleicht

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