PIPER Reader Herbst 2024
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105<br />
THOMAS SCHLESSER<br />
LESEPROBE<br />
Arzt inzwischen von der Bezeichnung »Transitorische<br />
ischämische Attacke« absah, die eine ihm nicht<br />
mehr zwingend erscheinende Durchblutungsstörung<br />
des Gehirns voraussetzte. (…)<br />
Van Orst verschrieb seiner jungen Patientin also eine<br />
herkömmliche medizinische Behandlung: wöchentliche<br />
Blut- und Arterienkontrollen, Termine beim<br />
Augenarzt und eine zehntägige Rekonvaleszenz. Er<br />
forderte Paul und Camille auf, »alle subjektiven Symptome«<br />
zu überwachen, was bedeutete, dass sie die<br />
Empfindungen ihrer Tochter sehr aufmerksam beobachten<br />
mussten. Außerdem schlug er ihnen vor, einen<br />
Kinderpsychiater aufzusuchen: »Eher als Alltagsprophylaxe,<br />
nicht als Therapeutik im engeren Sinn«, versicherte<br />
er ihnen.<br />
Paul und Camille hörten ihm mit halbem Ohr zu,<br />
denn im Grunde beschäftigte sie nur eine Frage:<br />
Würde Mona irgendwann das Augenlicht verlieren?<br />
Seltsamerweise erwähnte Doktor Van Orst zu keinem<br />
Zeitpunkt das Risiko eines endgültigen Rückfalls,<br />
und trotz ihrer Panik vermieden die Eltern das Thema<br />
lieber. Sie sagten sich, dass es keinen Grund gab, das<br />
Thema zu erörtern, wenn der Arzt es nicht erwähnte.<br />
Henry Vuillemin sprach seine Tochter direkt darauf<br />
an. Er war niemand, der Fragen aus dem Weg ging,<br />
auch wenn sie Abgründe eröffneten. Während er sich<br />
normalerweise mit dem Telefonieren zurückhielt, es<br />
sei denn, er wollte Mona sprechen, rief er in dieser<br />
Woche ständig an. Mit warmer, leidenschaftlicher<br />
Stimme setzte er Camille zu: Würde seine geliebte<br />
Enkelin, der Schatz seines Lebens, nun erblinden<br />
oder nicht? Henry bat nachdrücklich darum, Mona<br />
sehen zu dürfen, und Camille konnte es ihm nicht<br />
abschlagen. Sie bot ihm an, sie am kommenden<br />
Sonntag zu besuchen, genau eine Woche nach dem<br />
Blindheitsanfall. Paul, der schon ahnte, worauf das<br />
Gespräch hinauslief, fand sich damit ab und leerte<br />
quasi in einem Zug ein Glas herben Burgunder. Neben<br />
seinem Schwiegervater fühlte er sich immer ganz<br />
jämmerlich. Mona hingegen platzte vor Ungeduld,<br />
als sie von der Neuigkeit erfuhr.<br />
Sie liebte diesen Großvater mit all seinen Lebensjahren<br />
und seiner Kraft. Und sie beobachtete gern, wie er<br />
alle, die ihm begegneten, mit seiner wuchtigen Gestalt<br />
und seiner schweren Brille mit dem fast quadratischen<br />
Gestell bezauberte. In seiner Gesellschaft<br />
fühlte sie sich geborgen. Und beflügelt. Henry hatte<br />
immer Wert darauf gelegt, mit ihr wie mit einer Erwachsenen<br />
zu sprechen. Sie mochte diese Augenhöhe<br />
und genoss es. Nie hatte sie Angst, etwas nicht zu<br />
verstehen, und sie lachte über Irrtümer und Missverständnisse.<br />
Zugleich achtete sie auf ihre Sprache und<br />
fasste das Ganze als Spiel auf.<br />
Henry wollte kein gelehrtes Äffchen aus ihr machen.<br />
Er wollte keine Karikatur eines Großvaters sein, der<br />
nur auf die Fehler der Jugend lauert, um sie in einem<br />
belehrenden Tonfall zu korrigieren. Das war nicht<br />
seine Art. Er hatte noch nie Hausaufgaben mit ihr<br />
gemacht und mischte sich auch in die Zeugnisse<br />
nicht ein. Außerdem mochte er Monas Ausdrucksweise.<br />
Ihre Redewendungen faszinierten ihn regelrecht.<br />
Warum, konnte er nicht genau sagen. Von jeher<br />
fesselte ihn etwas an ihrer Kindersprache. War es etwas,<br />
das sie beitrug, oder etwas, das ihr fehlte? Dieser<br />
Eindruck war umso irritierender, als er ihm schon<br />
lange vertraut war: Monas »Wortmusik« hatte seit jeher<br />
etwas Geheimnisvolles gehabt, das Henry durch<br />
stetiges Hinhören unbedingt ergründen wollte. (…)<br />
*<br />
Am Sonntag war Mona in guter Verfassung. Ihre<br />
Eltern hatten sich bemüht, die bleierne Novemberstimmung<br />
ein bisschen aufzuheitern. Um neunzehn<br />
Uhr klingelte es. Paul verzog den Mund und runzelte<br />
die Stirn. Camille drückte auf einen Knopf: »Papa?«<br />
Er war es, pünktlich auf die Minute. Nach dem ersten<br />
Sturm der Begeisterung erzählte Mona ihm ausführlich<br />
von dem dreiundsechzigminütigen Horrortrip<br />
und ihrem Leidensweg durch das Krankenhaus. Camille<br />
unterbrach sie nicht.<br />
Während er Mona reden und reden hörte, musterte<br />
Henry mit klinischem Blick das Umfeld, in dem sie<br />
lebte. Selbst ihr Zimmer schien ihm trotz des ganzen<br />
Glitzerkrams ausnehmend trist: die Tapete mit den<br />
Blumengirlanden, die mit Pailletten besetzten Herzen<br />
und Tiere, die rosafarbenen oder braunen Plüschfiguren,<br />
die grotesken Poster mit den gerade mal der<br />
Pubertät entronnenen Stars, der Plastikschmuck, die<br />
Möbel, die wie bei Prinzessinnen aus Zeichentrickfilmen<br />
aussahen. All die grellen Farben nahmen ihm<br />
die Luft zum Atmen. In dem ganzen geschmacklosen