PIPER Reader Herbst 2024
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75<br />
GENEVIEVE KINGSTON<br />
LESEPROBE<br />
zu waschen, und wünschte mir, ich könnte Star Trek<br />
einschalten. Ich sah in die Gesichter der anderen<br />
Frauen und wusste, dass ich ihnen das niemals würde<br />
erklären können: Warum ich noch einmal bei meiner<br />
Mutter sitzen wollte, wenn der Vorspann die Lichter<br />
von Novae und Warp-Antrieben über unsere Gesichter<br />
gleiten lassen würde. Warum ich gerade in<br />
diesem Moment das Bedürfnis hatte zu wissen, dass<br />
einige Dinge gleich blieben. Warum ich mich nach<br />
einem anderen Zeitverständnis sehnte. Ich hätte ihnen<br />
niemals erklären können, dass wir uns alle jahrelang<br />
gemeinsam auf einer Reise befunden haben,<br />
meine Mutter, Captain Janeway, die »Voyager« und<br />
ich; einer Reise nach Hause, von der wir wussten,<br />
dass sie vielleicht unser ganzes Leben lang andauern<br />
würde.<br />
Zehn Tage später wurde ich zwölf.<br />
Ich wachte früh auf in einem stillen Haus, und wie<br />
an den vorhergehenden zehn Morgen fragte ich<br />
mich, ob ich alles geträumt hätte. Vielleicht würde<br />
ich, wenn ich meine Tür öffnete und den Flur mit<br />
dem grauen Teppich entlang zum Nebenzimmer<br />
ginge, sie dort liegen sehen, mit rieselnden Tröpfen,<br />
summenden Apparaten und dem Atem, der in der<br />
Luft um ihren Schlaf aufwirbelte. An diesem Morgen<br />
lag ich im Bett, wie an den vergangenen zehn<br />
Morgen, bis die innere Verwirrung nachließ. Das<br />
hier war real. Das hier würde für den Rest meines<br />
Lebens real sein. Es würde auch noch real sein, wenn<br />
ich schon gestorben war.<br />
Ich schwang meine nackten Beine aus dem Bett. Ich<br />
trug eines der Nachthemden, die meine Mutter für<br />
mich gemacht hatte. Jeden Sommer hatte sie drei genäht:<br />
zwei langärmelige, ein kurzärmeliges, zwei aus<br />
Baumwolle, eines aus Flanell. Jedes Jahr hatte sie sie<br />
eine Größe größer gemacht und dabei sorgfältig die<br />
Taschen vorne aufgesetzt, sodass sie sich perfekt ins<br />
Muster fügten. Dieses hier war zu klein, denn in den<br />
letzten zwei Jahren konnte sie nicht mehr gut genug<br />
sehen, um zu nähen, und sie konnte nicht aufrecht sitzen,<br />
um die Maschine zu bedienen. Es schnitt unter<br />
den Armen ein.<br />
DAS HIER WAR<br />
REAL. DAS HIER<br />
WÜRDE FÜR<br />
DEN REST<br />
MEINES LEBENS<br />
REAL SEIN.<br />
ES WÜRDE<br />
AUCH NOCH<br />
REAL SEIN,<br />
WENN ICH<br />
SCHON<br />
GESTORBEN<br />
WAR.<br />
Meine Mutter und ich hatten am selben Tag Geburtstag,<br />
und in jedem anderen Jahr wäre ich den<br />
Flur entlanggerannt und zu ihr ins Bett gekrochen.<br />
Mein Vater hätte uns heiße Schokolade oder einen<br />
Blumenstrauß gebracht und uns »die Geburtstagsmädels«<br />
genannt. Meine Mutter hätte mich an sich<br />
gedrückt und wie jedes Jahr gesagt: »Das schönste<br />
Geburtstagsgeschenk, das ich je bekommen habe.«<br />
Stattdessen blieb ich in meinem Zimmer und schob<br />
den Zeitpunkt weiter auf, zu dem ich meine Tür würde<br />
öffnen und feststellen müssen, dass sie fort ist.<br />
Seit Monaten stand die Truhe schon in meinem Zimmer<br />
auf dem Boden und ich hatte versucht, sie zu<br />
ignorieren. In dieser Zeit hatte sie eine Zukunft verkörpert,<br />
von der ich hoffte, dass sie niemals eintreten<br />
würde. Jetzt bewegte ich mich langsam aus dem Bett