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STEPHAN ORTH<br />

INTERVIEW<br />

INTERVIEW<br />

»Couchsurfing in der Ukraine« – das klingt<br />

während eines Krieges nach einer etwas<br />

seltsamen Art von Abenteuer. Ist das nicht<br />

pietätlos in der aktuellen Situation?<br />

Ich hatte tatsächlich große Zweifel, ob das der richtige<br />

Ansatz ist. Dann habe ich ein paar Ukrainerinnen und<br />

Ukrainer gefragt, was sie davon halten, und war überrascht:<br />

Alle meinten, ich solle das machen, das wäre<br />

doch interessant. Es sei schließlich niemand gezwungen,<br />

mich einzuladen. Dann ergaben sich auf der Reise<br />

Begegnungen, die ich niemals vergessen werde.<br />

Wieso hast Du Dich entschieden,<br />

ausgerechnet in der Ukraine zu reisen?<br />

Gerade jetzt, wenn viele Leute ein bisschen »ukrainemüde«<br />

sind und sich lieber anderen Themen widmen als<br />

dem russischen Angriffskrieg, ist es wichtig zu zeigen,<br />

wie die Situation vor Ort ist. Das ist der schrecklichste<br />

Krieg in Europa seit achtzig Jahren, und er betrifft uns<br />

alle. Ein Buch mit einem etwas anderen Blickwinkel<br />

kann helfen, dafür zusätzliche Aufmerksamkeit zu wecken.<br />

Wenn man die globalen Auswirkungen und die<br />

Bedrohung auch für das restliche Europa betrachtet,<br />

gibt es momentan kaum ein Thema, das relevanter wäre.<br />

Mein wichtigster Grund für Reisen nach Kyjiw war<br />

jedoch persönlicher Natur: Ausgerechnet in den Wochen<br />

um den russischen Angriff 2022 habe ich mich<br />

in eine Ukrainerin verliebt. Sie ist wundervoll, nur das<br />

Timing hätten wir besser hinkriegen können.<br />

Kann man in der Ukraine momentan<br />

überhaupt reisen/couchsurfen?<br />

Es gilt eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes,<br />

aber man kann einreisen und fast alle nicht-okkupierten<br />

Städte besuchen. Nur in Frontnähe sind manche<br />

Orte natürlich schwer zugänglich, manche gar nicht<br />

besuchbar oder nur mit Journalisten-Akkreditierung.<br />

Ich war überrascht, wie viele Gastgeber ich fand, die<br />

mir eine Couch angeboten haben.<br />

Warum denkst Du, haben Deine Gastgeber<br />

zugesagt?<br />

Ich habe ihnen einen Deal vorgeschlagen: Ihr ladet<br />

mich ein, und dafür erzähle ich eure Geschichte. Viele<br />

Ukrainer haben das Gefühl, im Ausland missverstanden<br />

zu werden, weil so viele Falschinformationen<br />

kursieren. Manchmal war ich als »Traveller« auch eine<br />

willkommene Abwechslung vom täglichen Kriegsirrsinn,<br />

manchmal war ich Psychologe. Natürlich habe<br />

ich mir auf dieser Reise noch mehr Mühe als sonst<br />

gegeben, ein guter Gast zu sein.<br />

Gab es Situationen, in denen Du Angst<br />

hattest?<br />

Selbstverständlich, immer wieder. Bei jedem Raketenalarm,<br />

bei jeder Detonation, die ich zu hören<br />

bekam. Bei Saporischschja hatte mein Auto in Frontnähe<br />

einen Motorschaden, in Kostjantyniwka übernachtete<br />

ich in einem Haus, das der Eigentümer in<br />

eine Festung verwandelt hatte – zwanzig Kilometer<br />

von Bachmut entfernt, nachts ratterten die Panzer direkt<br />

davor vorbei. Man ist ständig nervös, weil jederzeit<br />

der nächste Alarm losgehen könnte, mit der Zeit<br />

hört man Phantom-Sirenen. Viele Ukrainer haben<br />

Herz- und Kreislaufprobleme wegen des Dauerstresses<br />

in der Kriegssituation.<br />

Gab es auch Situationen, in denen Du<br />

vergessen hast, dass Du Dich in einem<br />

Land im Krieg befandest?<br />

Nein, das vergisst man nicht so leicht, der Krieg ist<br />

dauerpräsent. Aber es gab zwischendurch immer mal<br />

wieder ein paar Stunden, in denen die Gesprächsthemen<br />

nichts mit dem Krieg zu tun hatten, das war erholsam<br />

für alle Beteiligten. Und natürlich geht in den<br />

Städten auch das normale Leben weiter, man geht georgisch<br />

essen und trinkt einen Wein in der Bar. Menschen<br />

können nicht 24 Stunden und sieben Tage die<br />

Woche Angst haben.

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