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PIPER Reader Herbst 2024

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Ihr Großvater malte sich sein Vorhaben aus: Nach<br />

einem unveränderlichen Ritual würde er Mona einmal<br />

in der Woche bei der Hand nehmen und mit ihr<br />

ein Kunstwerk betrachten – ein einziges –, zunächst<br />

schweigend, damit seine Enkelin die grenzenlose<br />

Lust der Farben und Formen empfinden konnte, dann<br />

erklärend, damit sie das Stadium des visuellen Entzückens<br />

hinter sich lassen und verstehen konnte, wie<br />

die Künstler uns vom Leben erzählen und wie sie es<br />

beleuchten.<br />

Für seine kleine Mona schwebte ihm etwas Besseres<br />

vor als die Medizin. Zuerst würden sie in den Louvre<br />

gehen, dann ins Musée d’Orsay und schließlich ins<br />

Centre Pompidou. An jenen Orten würde er Heilung<br />

für seine Enkelin finden. Henry zählte nicht zu jenen<br />

Kunstliebhabern, die sich, den Dingen des Alltags<br />

enthoben, mit dem Schimmer einer von Raffael<br />

gemalten Gestalt oder mit dem Rhythmus einer von<br />

Degas’ Kohlestiften skizzierten Linie zufriedengaben.<br />

Er mochte die aufwühlende Kraft dieser Werke.<br />

Manchmal sagte er: »Kunst ist Pyrotechnik oder<br />

Wind.« Und er mochte es, dass ein Gemälde, eine<br />

Skulptur, eine Fotografie, als Ganzes oder in einem<br />

Detail, den Sinn des Lebens anfachen konnte. (…)<br />

»Abgemacht«, sagte Henry mit strahlendem Lächeln,<br />

»ich nehme Mona jeden Mittwochnachmittag. Ab<br />

jetzt bin ich der Einzige, der sich um ihre psychologische<br />

Behandlung kümmert. Das wird unser gemeinsames<br />

Projekt sein, einverstanden?«<br />

»Findest du denn jemand Gutes, Papa? Fragst du deine<br />

alten Freunde um Rat?«<br />

»Wenn ihr grundsätzlich einverstanden seid, kümmere<br />

ich mich darum. Unter der Bedingung, dass ihr<br />

nicht ständig nachfragt und euch einmischt.«<br />

»Aber du suchst nicht wahllos irgendeinen Kinderpsychiater,<br />

ja? Du hörst dich schon um?«<br />

»Vertraust du mir, Liebes?«<br />

»Ja«, bekräftigte Paul energisch, um bei Camille alle<br />

Zweifel auszuräumen. »Mona bewundert und respektiert<br />

dich, und sie liebt dich wie sonst niemanden.<br />

Natürlich vertrauen wir dir.«<br />

Camille hatte den entschlossenen Worten ihres<br />

Mannes nichts hinzuzufügen. Henry spürte, wie sein<br />

gesundes Auge feucht wurde. Coltranes Saxofon ließ<br />

die Wände beben. Mona schlief in ihrem Zimmer,<br />

behütet von Georges Seurat.<br />

26.<br />

SEP<br />

<strong>2024</strong><br />

THOMAS SCHLESSER<br />

MONAS AUGEN<br />

Eine Reise zu den schönsten<br />

Kunstwerken unserer Zeit<br />

Aus dem Französischen von Nicola Denis<br />

Hardcover<br />

544 Seiten<br />

26,00 € (D) 26,80 € (A)<br />

ISBN 978-3-492-07296-0<br />

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