PIPER Reader Herbst 2024
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52<br />
A N NE MICH A ELS<br />
LESEPROBE<br />
»Anne Michaels war poeta laureata von Toronto,<br />
und so überrascht es nicht, dass ihr neuester<br />
Roman Zeitpfade eine generationenübergreifende<br />
Familiensaga in ein lyrisches Puzzle aus Bildern<br />
und Beobachtungen verwandelt, einen Auslöser<br />
für ›die lange Lunte der Erinnerung, die stets<br />
brennt‹. Das Buch beginnt in den Schützengräben<br />
des Ersten Weltkriegs die dem Soldaten<br />
John wie ein ›450-Meilen-Grab‹ vorkommen<br />
und es endet in der nahen Zukunft, als einer seiner<br />
Nachkommen durch die Straßen einer Stadt<br />
am Finnischen Meerbusen geht.<br />
Dazwischen gleitet Michaels' Erzählung anmutig<br />
in Zeit und Raum hin und her, von North Yorkshire<br />
in den 1920er Jahren ins ländliche Suffolk<br />
der 1980er Jahre und dann wieder ins Paris des<br />
Jahres 1908. John, der Soldat, dem wir 1917 zum<br />
ersten Mal begegnen, kehrt aus dem Krieg zu seiner<br />
Frau Helena und seinem Fotostudio zurück.<br />
Verfolgt von dem, was er gesehen (oder nicht<br />
gesehen) hat, hinterlässt er ein Vermächtnis, das<br />
seine Tochter und seine Enkelin an neue Fronten<br />
schickt, diesmal in Feldlazarette und Flüchtlingslager,<br />
›die allergefährlichsten Orte‹.<br />
Jedes kurze Kapitel ist voller geschickt skizzierter<br />
Charaktere: ein Kriegsberichterstatter, der<br />
schreiben muss, ›was niemand zu lesen erträgt‹;<br />
eine Witwe, die auf ihrem Weg durch eine<br />
Schneelandschaft unerwartet einem Seelenverwandten<br />
begegnet; sogar Marie Curie, an deren<br />
Mut sich einer ihrer engsten Freunde erinnert.<br />
In all diesen Geschichten leuchten ergreifende<br />
Verbindungen wie auch irritierende Divergenzen<br />
auf. Diejenigen, deren Leben auf das von John<br />
folgen, müssen ihren eigenen Weg finden, um<br />
in dieser ›neuen Welt zu überleben, mit neuen<br />
Graden des Kummers, viel extremeren Graden<br />
auf der Skala von Glück und Qual.«<br />
ALIDA BECKER, ›THE NEW YORK TIMES‹<br />
Wärme und Holzrauch. Ausgeblichene Polstersessel,<br />
Tische und Bänke aus zerkratztem Holz, Steinböden,<br />
ein wuchtiger Kamin und genug Scheite, um den kältesten<br />
Winter zu überstehen, bis zur Decke gestapelt,<br />
ein nie versiegender Märchenvorrat, sie malte sich aus,<br />
wie jedes Scheit sich im Lauf der Jahrhunderte auf magische<br />
Weise selbst ersetzte. John schaute Helena an,<br />
als sie in seiner Nähe Platz nahm. Für ihn war es eine<br />
unerwartet intime Begegnung an diesem öffentlichen<br />
Ort, die Neigung ihres Kopfes, ihre Haltung, ihre<br />
Hände. Er schaute zu, als ein Mann sich – besoffen,<br />
torkelnd, wobei jeder zögerliche Schritt ein Tribut an<br />
die sich drehende Erde und ihre Achsenneigung war –<br />
auf den leeren Stuhl ihr gegenüber sinken ließ und<br />
Helena mit einem langen, vernebelten Blick bedachte,<br />
bevor sein Kopf schwer wie ein Curlingstein auf den<br />
Tisch fiel und nach vorne glitt. John und ein anderer<br />
Gast sprangen gleichzeitig auf, um einzugreifen, und<br />
schleiften den Mann gemeinsam in den hinteren Teil<br />
des Schankraums, damit er dort seinen Rausch ausschlief.<br />
Als John an seinen Tisch zurückkehrte, war<br />
dieser von einem bereits völlig weltvergessenen Pärchen<br />
besetzt, das nicht einmal hochblickte.<br />
»Es tut mir leid«, sagte Helena und raffte Mantel und<br />
Ranzen zusammen. »Bitte nehmen Sie diesen Tisch.«<br />
Er bestand darauf, dass sie blieb. Sie rang ihre<br />
Schüchternheit nieder und fragte, ob er sich zu ihr setzen<br />
wolle. Später würde sie ihm erzählen, was sie dabei<br />
empfunden hatte, es war so flüchtig, unerklärlich, nicht<br />
einmal ein Gedanke: Wenn er sich setzte, würde sie für<br />
den Rest ihres Lebens einen Tisch mit ihm teilen.<br />
*<br />
Durch das Fensterchen im Flur konnten sie aus der<br />
Hitze ihres Bads den Schnee fallen sehen.<br />
*<br />
Die schwarzen Umrisse der Bäume erinnerten ihn an<br />
ein Feld im Winter, das er einmal aus dem Zugfenster<br />
erblickt hatte. Und an die schwarze See der Nacht und<br />
an die tiefschwarze Haube und Schürze seiner Großmutter,<br />
wenn sie vom Hafen heraufkam und unaufhörlich<br />
strickend den uralten, mit Körben voller Krabben<br />
beladenen Familienesel führte. Alle Frauen im Dorf