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HENDRIK STREECK<br />
INTERVIEW<br />
Die kurze Antwort lautet: Ja, unbedingt. Die etwas längere:<br />
Die Bekämpfung einer Pandemie hat nur bedingt<br />
etwas mit der Virologie zu tun, auch wenn ein Virus die<br />
Hauptrolle spielt. Im Kern geht es darum, das Leben<br />
zu ermöglichen und gleichzeitig schwere Krankheitsverläufe<br />
oder gar Infektionen zu verhindern. Die Entscheidung,<br />
ob eine Pandemie vorliegt oder für beendet<br />
erklärt wird, basiert maßgeblich auf der kollektiven<br />
Wahrnehmung. In diesen Überlegungen spielen soziologische<br />
und psychologische Aspekte eine wesentliche<br />
Rolle. Es gilt zu erörtern, wie man eine Reduktion der<br />
Kontakte in der Bevölkerung erreichen kann, welche<br />
Maßnahmen als vertretbar gelten und welche unerwünschten<br />
Nebeneffekte auftreten können. Zudem<br />
ist zu berücksichtigen, inwieweit Menschen bereit sind,<br />
Änderungen ihrer Lebensgewohnheiten zu akzeptieren<br />
und umzusetzen. Hierbei sind sogenannte Enablingstrategien<br />
von entscheidender Bedeutung. Obwohl<br />
die Virologie täglich mit Pandemien und ihren<br />
Erregern befasst ist, stellt sie doch nur einen Teil eines<br />
umfassenden Systems aus diversem Fachwissen dar.<br />
Wie haben Sie Ihre Rolle als Wissenschaftler<br />
während der Pandemie erlebt?<br />
Anfangs gab es auf der einen Seite die Wissenschaft<br />
und auf der anderen die Politik. Wir Wissenschaftler<br />
waren zunächst beratend tätig. Aber dann wurde<br />
das Virus politisch. Die Politik hat irgendwann angefangen,<br />
sich hinter wissenschaftlichen Aussagen zu<br />
verstecken. Sie hat sozusagen die Wissenschaft vorgeschoben,<br />
als Argument für bestimmte Maßnahmen.<br />
Das war falsch. Wissenschaftler sollten nur beraten<br />
und keine politischen Entscheidungen treffen müssen.<br />
Ich habe erlebt, dass sehr viele Fragen an einen herangetragen<br />
wurden und wenn man einwandte: »Das ist<br />
aber nicht mein Fachgebiet – hier kenne ich mich nicht<br />
ausreichend aus«, wurde man trotzdem häufig dazu<br />
gedrängt, sich zu äußern. Wichtige Entscheidungen<br />
für bestimmte Maßnahmen oder Gegenmaßnahmen<br />
sollten aber meiner Meinung nach Politiker und gewählte<br />
Volksvertreter treffen. Schließlich leben wir<br />
in einer Demokratie und nicht in einer Expertokratie.<br />
Gleichzeitig wurde aber auch immer wieder<br />
das Auftreten der Wissenschaft kritisiert.<br />
Wie sollten Wissenschaftler daher künftig ihre<br />
Erkenntnisse übermitteln? Wie sieht eine gute<br />
wissenschaftliche Kommunikation aus?<br />
Während der Coronapandemie wurden wissenschaftliche<br />
Ergebnisse und Erkenntnisse häufig als absolute<br />
Wahrheiten ausgegeben und so auch von vielen aufgefasst.<br />
Wissenschaft ist aber in den seltensten Fällen absolut<br />
und Studienergebnisse besitzen in den seltensten<br />
Fällen dauerhafte Gültigkeit. Gerade während der Pandemie,<br />
als alle unter zeitlichem Druck standen, waren<br />
viele Ergebnisse eher von vorläufiger Gültigkeit. Gute<br />
wissenschaftliche Kommunikation besteht meiner Meinung<br />
nach darin, genau die Einschränkungen offenzulegen.<br />
Sie sollte transparent sein und deutlich machen,<br />
was gesichert ist und was nicht. Und genauso gehört es<br />
dazu, zu sagen, wo die Grenzen der eigenen Expertise<br />
liegen, und davon abzusehen, die Politik zu beeinflussen.<br />
Aber auch der Wissenschaftsjournalismus spielt eine<br />
wichtige Rolle in der Einschätzung von Studien und da<br />
kam der abwägende Charakter manchmal zu kurz.<br />
In einer so schwierigen Gemengelage haben<br />
diejenigen leichtes Spiel, die Fake News verbreiten.<br />
Wie können wir zukünftig verhindern,<br />
dass falsche Fakten den Diskurs bestimmen?<br />
Wir brauchen vor allem Institutionen, denen die Bürgerinnen<br />
und Bürger vertrauen, und wir müssen aufpassen,<br />
dass diese Institutionen deren Vertrauen nicht<br />
verspielen. Das gelingt ihnen nur, wenn sie eine gute<br />
wissenschaftliche Kommunikation aufrechterhalten<br />
und sich an ihren eigenen Standards messen lassen. So<br />
können sie aktiv auf Fake News reagieren und die Menschen<br />
können sich auf die Informationen von dort verlassen.<br />
Institutionen wie das RKI oder die Leopoldina<br />
haben leider während der Pandemie einen Teil ihres<br />
Vertrauens verspielt. Solche Institutionen sind keine<br />
Aktivisten. Die Entwicklung sehe ich als höchst problematisch<br />
an. Auch diese Situation muss rückblickend<br />
aufgearbeitet werden. Das kostet Energie und es bedeutet,<br />
dass Fehler eingestanden werden müssen. Doch<br />
nur so kann man Vertrauen zurückgewinnen.<br />
Herzlichen Dank, Herr Streeck, für dieses<br />
Gespräch!