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PIPER Reader Herbst 2024

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121<br />

STEPHAN ORTH<br />

INTERVIEW<br />

»<br />

MENSCHEN<br />

KÖNNEN NICHT<br />

24 STUNDEN<br />

UND SIEBEN<br />

TAGE DIE WOCHE<br />

ANGST HABEN.<br />

Vor sieben Jahren hast du das Buch »Couchsurfing<br />

in Russland« veröffentlicht, in dem<br />

du die Regierung heftig kritisierst, aber die<br />

Menschen im Land mit viel Wohlwollen beschreibst.<br />

Wie hat die Erinnerung an diese<br />

Reise deine jetzigen Erlebnisse beeinflusst?<br />

Ich habe Russland damals als hochinteressanten und<br />

facettenreichen Vielvölkerstaat kennengelernt, mit<br />

sehr herzlichen Menschen. Umso schwerer zu fassen ist<br />

für mich, welchen Weg dieses Land gegangen ist. Aus<br />

Gesprächen mit einigen meiner Gastgeber von damals<br />

weiß ich aus erster Hand: Es ist nicht nur Putins Krieg,<br />

viele Menschen wollen diesen Imperialismus, viele bekommen<br />

aus ihren Propagandamedien ein vollkommen<br />

unzutreffendes Bild vom »Westen«, von der Ukraine<br />

und vom Krieg. Und leider sind Themen aus der russischen<br />

Staatspropaganda auch bei uns sehr präsent.<br />

Was macht die Ukraine und ihre Menschen<br />

so besonders?<br />

Ein unfassbarer Durchhalte- und Lebenswillen. Die<br />

Menschen wollen sich nicht unterkriegen lassen, auch<br />

Zivilisten helfen als Freiwillige mit oder durch Spendenaktionen.<br />

Spätestens seit den Majdan-Demonstrationen<br />

2013/2014 sieht man: Diese Leute lassen<br />

sich Ungerechtigkeiten nicht bieten und wollen selbst<br />

dafür kämpfen, ein besseres, freieres Leben zu führen.<br />

Wenn dieser schreckliche Krieg vorbei ist, wird<br />

hoffentlich wieder die Schönheit des Landes in den<br />

Vordergrund rücken. Tourismus kann dann der Wirtschaft<br />

helfen, und da gibt es viel zu entdecken: Berglandschaften<br />

in den Karpaten, Burgen in Kamjanez-<br />

Podilskyj, die Küste vor Odesa …<br />

Was hat Dich besonders berührt?<br />

Immer wieder die Geschichten der Menschen. Beeindruckt<br />

hat mich eine 85-jährige Frau, die ihre Wohnung<br />

durch einen Raketeneinschlag verloren hat und<br />

seit sechzehn Monaten in einem Keller in Lyman lebt.<br />

Sie hat das positivste Wesen, das man sich vorstellen<br />

kann, sagte immer wieder: »Es wird schon alles gut<br />

werden.«<br />

Was willst Du Deinen Leser:innen mitgeben?<br />

Einen Einblick, wie sich die Situation vor Ort tatsächlich<br />

anfühlt. Wir bekommen reichlich News, jedes<br />

Ukraine-Thema wurde beleuchtet – und dennoch<br />

herrscht einige Verwirrung, auch durch Falschinformationen,<br />

und die meisten haben keine Vorstellung,<br />

wie es sich wirklich anfühlt, jetzt in dem Land zu sein.<br />

Der Krieg ist zehnmal schlimmer, als wir uns das aus<br />

Medienberichten vorstellen können, und gleichzeitig<br />

gibt es zehnmal mehr Normalität. Wie das gleichzeitig<br />

möglich sein kann, das versuche ich zu beschreiben.

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