PIPER Reader Herbst 2024
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M AT THI A S LOHR E<br />
INTERVIEW<br />
eine tiefe Krise gestürzt. Dann verfiel er auf die Idee,<br />
die Geschichte seiner Familie zum Roman zu formen.<br />
Damit fand er seine Bestimmung. Die Buddenbrooks<br />
haben Thomas Mann das Leben gerettet.<br />
Dein Roman beginnt mit einem Ausblick ins<br />
Jahr 1953. Der 77-jährige Thomas Mann reist<br />
noch einmal nach Italien. Was er da bekennt,<br />
scheint einem seiner Romane zu entstammen.<br />
Es ist schier unglaublich.<br />
Und doch deutet alles darauf hin, dass es so gewesen<br />
ist. Dem in Rom lebenden Künstler Fabius von Gugel<br />
erzählte er, als jungem Mann sei ihm im nahen<br />
Bergstädtchen Palestrina der Teufel erschienen. Das<br />
sagt ausgerechnet er: dieses sonst so kühle, ja kalt<br />
auftretende Meister der Selbsttarnung! Dem Augenzeugenbericht<br />
zufolge berichtete Mann vom Geschehen<br />
ganz ähnlich, wie er es wenige Jahre zuvor<br />
im »Doktor Faustus« geschildert hat. Da erinnert ja<br />
der Teufel den Komponisten Adrian Leverkühn daran,<br />
dass sie beide im Bunde seien: Leverkühn darf<br />
geniale Werke erschaffen und muss dafür mit seiner<br />
Seele bezahlen. Niemanden darf er lieben. Die Szene<br />
spielt sogar in eben jener Herberge in Palestrina, in<br />
der Thomas mit seinem Bruder einst gewohnt hatte.<br />
Peter de Mendelssohn, der Thomas Mann und Fabius<br />
von Gugel persönlich kannte, nahm die Geschichte<br />
in seine Mann-Biografie auf. Er fand sie offenbar<br />
glaubwürdig.<br />
Und du?<br />
Je mehr ich von und über Thomas Mann gelesen habe,<br />
desto schlüssiger erscheint sie mir. Denn Thomas<br />
Mann hat immer wieder bekannt, er erfinde seine<br />
Geschichten nie, sondern finde sie. Nahezu alles in<br />
seinen Werken gründet in selbst Erlebtem: im Erstlingsroman<br />
über eine norddeutsche Kaufmannssippe<br />
natürlich, aber auch im »Tod in Venedig«. Der Novelle<br />
ging ein Besuch der Lagunenstadt voraus – übrigens<br />
mit Heinrich. Sein Leben lang hat er es verstanden,<br />
Heinrich<br />
Heinrich ist ein Rebell. Der älteste Sohn<br />
einer angesehen Kaufmannsdynastie hat<br />
früh klar gemacht, dass er die hundertjährige<br />
Firma der Familie nicht übernehmen<br />
will. Der 25-Jährige hat bereits einen Roman<br />
veröffentlicht und lebt nach Stationen<br />
in Dresden und Berlin seinen Traum: Er ist<br />
freier Schriftsteller in Rom. Wäre da nur<br />
nicht die lästige Arbeit für ein reaktionäres<br />
Blatt, die ihm Zeit fürs literarische Schreiben<br />
raubt. In seinen Werken dreht sich<br />
alles um Frauen: Mal sind sie Opfer von<br />
Männern, mal Verführerinnen, immer aber<br />
Projektionen männlicher Begierden und<br />
Ängste. Dann begegnet ihm Lina.