PIPER Reader Herbst 2024
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116<br />
AURELIA HÖLZER<br />
LESEPROBE<br />
Wir checken nochmal den Wind – leichter Südwestwind<br />
– und das neueste Satellitenbild: Ein kilometerlanger<br />
Eisberg hat sich aus dem Eis im Nordosten<br />
der Bucht verabschiedet und zieht nördlich der Bucht<br />
vorbei Richtung Nordanleger. Ich rufe kurz beim Alfred-Wegener-Institut<br />
in Bremerhaven an, ob wir bei<br />
leichtem Südwind trotz des losgelösten Eisbergs fahren<br />
können. Bei starkem Südwind bestünde rein theoretisch<br />
die Gefahr, dass das Eis, falls es in Schollen<br />
aufbricht, aus der Bucht aufs Meer hinausgetrieben<br />
wird. »Keine Sorge, ihr könnt fahren«, ist die Antwort.<br />
Das deckt sich auch mit meiner und Markus‘<br />
Einschätzung. Trotzdem bin ich froh um die Möglichkeit,<br />
Rücksprache zu halten, ich verantworte das<br />
Ganze ja zum ersten Mal. »Better safe than sailing the<br />
Southern Ocean on an Eisscholle« lautet die Devise.<br />
(…)<br />
Erst als der Wind ein wenig abflaut, kommen wir los.<br />
Es ist bereits mittlerer Vormittag. Obwohl wir am<br />
Vorabend alles bereitgelegt haben, dauert das Anziehen<br />
der multiplen Schichten von Kleidungsstücken,<br />
Buffs, Mützen, Socken, Fell-Innenschuhen, Stiefeln<br />
und dergleichen eine Viertelstunde. Schlagartig ist<br />
mir unerträglich heiß in dem ganzen Zeug, ich glühe<br />
regelrecht. Ab in die Garage, bevor ich mich nassschwitze,<br />
da ist es wenigstens kalt. Wie Presswürste<br />
» WIR HALTEN NOCHMAL<br />
FÜR EINEN LETZTEN<br />
CHECK. ALLE DAUMEN<br />
HOCH, LOS GEHT’S.<br />
»<br />
sehen wir aus, können uns kaum bücken, um die Stiefel<br />
zu schnüren. Die Schlitten sind schon seit gestern<br />
fertig beladen, die Werkzeuge verzurrt, jetzt laufen<br />
die Skidoos in der Tiefgarage warm. Karsten hat für<br />
diese Zeit die U2-Brandmeldeanlage für uns ausgeschaltet.<br />
Wir sind aufgeregt, das merkt man. Einer<br />
vergisst fast, in der Garderobe eine Hose anzuziehen,<br />
der nächste lässt erst Daunenjacke, dann Funkgerät<br />
liegen und muss zweimal wieder hochlaufen, der dritte<br />
fällt im Dunklen über die Skidookufen und schlägt<br />
der Länge nach hin. Endlich sind wir fertig. Markus<br />
hat einen verdammt guten Draht zum Wettergott:<br />
perfektes Wetterfenster und beinahe Windstille.<br />
Wir fahren die Rampe hoch und aus der Garage hinaus<br />
in eine dramatische späte Morgendämmerung.<br />
Erstes Tageslicht leuchtet flammend über dem nördlichen<br />
Horizont. Wir halten nochmal für einen letzten<br />
Check. Alle Daumen hoch, los geht’s. Markus fährt<br />
voraus, ich lenke den mittleren Skidoo mit Hannes<br />
hinten drauf, der Micha auf dem hintersten Skidoo<br />
auf dem Schirm behält. Wir fahren in den stillen, eisklaren<br />
Morgen hinein zügig die zehn Kilometer bis<br />
zur Meereisrampe. Dann fahren wir diese hinunter<br />
und sind zum ersten Mal auf der zugefrorenen Bucht<br />
unterwegs. Wow. Der besseren Übersicht halber fahren<br />
wir langsam und im Stehen, folgen dem GPS und<br />
unserer Orientierung nach Nordosten.<br />
Das Meereis und seine Schneeauflage sind hier glatt<br />
wie ein Babypopo, bequemer zu fahren als jede Trasse.<br />
Der Skidoo mit der<br />
Nummer Sieben und<br />
dem roten Kreuz vorn<br />
drauf ist das Gefährt<br />
der Ärztin oder des<br />
Arzts.