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PIPER Reader Herbst 2024

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51<br />

A N NE MICH A ELS<br />

LESEPROBE<br />

trug. Trams, Menschenschlangen, der Geruch nach<br />

Fisch und Benzin. Sie so weich und seine Kindheit so<br />

hart. Ihr Duft, bevor er sich vom Schlaf übermannen<br />

ließ, die polierte Wärme ihrer Halskette, als sie sich<br />

über ihn beugte. Die Lampe, die sie brennen ließen.<br />

*<br />

Das Gasthaus war an den Bahngleisen errichtet<br />

worden, neben dem Dorfbahnhof, in einem Flusstal.<br />

Einst waren Gasthaus und Tal eine touristische<br />

Attraktion gewesen, die Eisenbahngesellschaft hatte<br />

das Bergpanorama beworben, die Wildblumenwiesen,<br />

die wohlriechenden Kiefern und Roten Betonien. Die<br />

Bahngleise wurden vom trägen Fluss beschattet, wie<br />

eine Mutter mühsam ihrem Kind nachläuft, silbrige<br />

Linien, die sich durch das Tal zogen.<br />

Helena hatte sich auf den Weg in die nächste, größere<br />

Stadt gemacht, war dabei jedoch eingenickt. Sie<br />

kam nicht gegen ihre Schläfrigkeit an, erlag ihr, wie<br />

betäubt vom Ruckeln des Zuges. Und als der Zug am<br />

letzten Bahnhof vor dieser Stadt hielt, hatte sie im<br />

Halbschlaf den Schaffner missverstanden, der bereits<br />

den nächsten Halt ausrief, schnappte sich ihren Ranzen<br />

und stieg eine Haltestelle zu früh aus.<br />

Hinter der trüben Laterne am Ausgang war es dunkel<br />

– tiefste ländliche Dunkelheit. Sie kam sich albern<br />

vor und verspürte dabei eine gewisse Angst: der menschenleere<br />

Bahnsteig, der verschlossene Wartesaal. Sie<br />

wollte sich gerade auf die einsame kalte Bank setzen<br />

und warten, bis es Tag wurde, als sie in der Ferne Gelächter<br />

hörte. Später würde sie ihm erzählen, sie hätte<br />

Gesang gehört, obwohl John sich an keinerlei Musik<br />

erinnern konnte. Sie blieb am Ausgang stehen, weil sie<br />

den kläglichen Schutz dieser einen staubigen Bahnhofsglühbirne<br />

nicht aufgeben wollte. Doch als sie ins<br />

Dunkle hinausspähte, erblickte sie in einiger Entfernung<br />

den einladenden Lichtschein des Gasthauses.<br />

Später würde sie diesem kurzen Gang durch die<br />

Dunkelheit zum Lichtkreis – während um sie herum<br />

die endlosen Felder voll unsichtbarer Gräser raschelten<br />

– die Eigenschaften eines Traums zuschreiben,<br />

dessen Zwangsläufigkeit, dessen Voraussicht.<br />

Beim Blick durch das vordere Fenster sah Helena einen<br />

Raum, der in einer eigenen Zeitkapsel steckte. Ein<br />

Gasthaus wie in Volkssagen und Legenden, erfüllt von<br />

»Eine intensive, geheimnisvolle Schönheit stattet<br />

Michaels' präzise Prosa mit einer exquisiten, fesselnden<br />

Kraft aus ... Es ist das Bindegewebe der<br />

Hoffnung, das die scheinbar disparaten Episoden<br />

des Romans verbindet. Vor der Kulisse großer<br />

Weltereignisse und des Fortschritts beleuchtet<br />

Michaels, wie das Innenleben eines Menschen<br />

alle äußeren Einflüsse überwinden kann. Wie<br />

sein Inneres - seine Fähigkeit zu Liebe, Empathie<br />

– wie sein Wunsch nach Verbundenheit<br />

eine unsichtbare Kraft sein kann, die auf unergründliche<br />

Weise Veränderungen bewirkt ...<br />

Zeitpfade ist ... die Erfahrung eines langsamen,<br />

allmählichen Begreifens, während die Fäden sich<br />

immer weiter verknoten, entwirren und zusammenziehen.<br />

Michaels bietet eine tiefe literarische<br />

Erfahrung, und das mit Subtilität, Anmut und<br />

einem exquisiten Gespür für den geheimen,<br />

brennenden Herzschlag der Menschheit, der<br />

jenseits der Zeit pulsiert. «<br />

HELEN CULLEN, ›THE IRISH TIMES‹<br />

»In seiner nachdenklichen, philosophischen Art<br />

ist Zeitpfade ein Gegengift zu unserer schnelllebigen<br />

Welt. Dies literarisches Slow Food sollte<br />

man sich Satz für Satz auf der Zunge zergehen<br />

lassen, die Bildkraft bewundern und sich daran<br />

begeistern, wie am Ende aus all den Puzzleteilen<br />

ein Ganzes entsteht. Mit ihrer magischen Prosa<br />

lädt Anne Michaels uns ein, einen Moment lang<br />

im Unsichtbaren zu baden und enthüllt dabei leise<br />

die Schönheit, die dem Unbekannten innewohnt.«<br />

›THE SYDNEY MORNING HERALD‹

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