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PIPER Reader Herbst 2024

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60<br />

M AT THI A S LOHR E<br />

INTERVIEW<br />

MEIN ROMAN<br />

ERZÄHLT AUCH<br />

DIE GESCHICHTE<br />

ZWEIER<br />

BRÜDER. WER<br />

GESCHWISTER<br />

HAT, WEISS,<br />

WIE NAHE BEI­<br />

EINANDER LIEBE<br />

UND HASS,<br />

BEWUNDERUNG<br />

UND VERACH­<br />

TUNG LIEGEN<br />

KÖNNEN.<br />

Wenn es mir gelungen ist, diese beiden Monumente<br />

deutscher und europäischer Geistesgeschichte<br />

als nahbare Menschen darzustellen, dann bin ich<br />

sehr froh. Auch deshalb bin ich mit meiner Frau<br />

und unserem kleinen Sohn an die Schauplätze des<br />

Romans gereist. Ich stand, wo Thomas Mann in Palestrina<br />

dem Teufel begegnet sein soll, suchte die<br />

Wohnhäuser der Brüder in Rom auf, kletterte hinab<br />

in Neapels Unterwelt. Das hat mir viel bedeutet.<br />

Diese intensiven Erfahrungen werden hoffentlich<br />

auch für die Lesenden spürbar. Mein Roman erzählt<br />

auch die Geschichte zweier Brüder. Wer Geschwister<br />

hat, weiß, wie nahe beieinander Liebe<br />

und Hass, Bewunderung und Verachtung liegen<br />

können. Wie sehr es einen quält, sich mit ihnen<br />

vergleichen zu müssen und zu glauben, es ihnen nie<br />

gleich tun zu können. Ich bin übrigens das jüngste<br />

von fünf Kindern.<br />

Für den Roman bist du tief in die Werke von<br />

Heinrich und Thomas Mann eingetaucht.<br />

Haben sie Dich beim Schreiben beeinflusst?<br />

Oh ja! Weit mehr, als ich das zu Beginn erwartet<br />

hatte. Während ich am Buch arbeitete, habe ich<br />

nicht nur noch einmal ihre Novellen, Erzählungen<br />

und Romane aus jener Zeit gelesen. Sondern auch<br />

die Autoren, die die Brüder damals lasen: Hans<br />

Christian Andersen, E.T.A. Hoffmann, Schopenhauer,<br />

Nietzsche, die Brüder Goncourt und viele<br />

andere. Und jedes Mal ist mir hier ein neues Detail<br />

aufgefallen, dort eine Absonderlichkeit. Viele Motive<br />

habe ich daraufhin in die Handlung einbauen<br />

können. Mit seltsamen Folgen. Beispielsweise wird<br />

Thomas in meinem Roman von einem schmerzenden<br />

Backenzahn geplagt – wie eine bestimmte Figur<br />

in einem Märchen von Andersen. Erst nachdem ich<br />

das eingebaut hatte, fand ich heraus: Der reale Thomas<br />

Mann hatte zur exakt gleichen Zeit tatsächlich<br />

heftige Zahnschmerzen! Und diese wiederum spielen<br />

eine große Rolle in »Buddenbrooks«. Indem ich<br />

mit solchen wiederkehrenden Motiven in den Werken<br />

der Manns spiele, kann der Eindruck entstehen,<br />

man schaue den blutjungen Autoren dabei zu, wie<br />

sie auf diese Motive gestoßen sind. So verschränken<br />

sich immer wieder Leben und Literatur. Wie bei den<br />

Manns selbst.<br />

Was würden die Brüder Mann zu deinem<br />

Roman sagen?<br />

Darüber habe ich häufig nachgedacht. Vermutlich<br />

wäre Heinrich nachsichtiger als sein Bruder. Je älter<br />

er wurde, desto weniger ernst nahm er Ruhm und<br />

Ansehen. Thomas hingegen … Sicher wäre er gekränkt<br />

angesichts der Anmaßung, ihn porträtieren<br />

zu wollen. Andererseits benutzte er ja selbst immer<br />

wieder bedenkenlos Freunde und Familienmitglieder<br />

als Vorlagen für seine Figuren. Und er verfügte die<br />

posthume Veröffentlichung seiner erhaltenen Tagebücher.<br />

Er wollte also von der Nachwelt gesehen und<br />

erkannt werden als der, der er insgeheim war.

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