Ihr Großvater malte sich sein Vorhaben aus: Nach einem unveränderlichen Ritual würde er Mona einmal in der Woche bei der Hand nehmen und mit ihr ein Kunstwerk betrachten – ein einziges –, zunächst schweigend, damit seine Enkelin die grenzenlose Lust der Farben und Formen empfinden konnte, dann erklärend, damit sie das Stadium des visuellen Entzückens hinter sich lassen und verstehen konnte, wie die Künstler uns vom Leben erzählen und wie sie es beleuchten. Für seine kleine Mona schwebte ihm etwas Besseres vor als die Medizin. Zuerst würden sie in den Louvre gehen, dann ins Musée d’Orsay und schließlich ins Centre Pompidou. An jenen Orten würde er Heilung für seine Enkelin finden. Henry zählte nicht zu jenen Kunstliebhabern, die sich, den Dingen des Alltags enthoben, mit dem Schimmer einer von Raffael gemalten Gestalt oder mit dem Rhythmus einer von Degas’ Kohlestiften skizzierten Linie zufriedengaben. Er mochte die aufwühlende Kraft dieser Werke. Manchmal sagte er: »Kunst ist Pyrotechnik oder Wind.« Und er mochte es, dass ein Gemälde, eine Skulptur, eine Fotografie, als Ganzes oder in einem Detail, den Sinn des Lebens anfachen konnte. (…) »Abgemacht«, sagte Henry mit strahlendem Lächeln, »ich nehme Mona jeden Mittwochnachmittag. Ab jetzt bin ich der Einzige, der sich um ihre psychologische Behandlung kümmert. Das wird unser gemeinsames Projekt sein, einverstanden?« »Findest du denn jemand Gutes, Papa? Fragst du deine alten Freunde um Rat?« »Wenn ihr grundsätzlich einverstanden seid, kümmere ich mich darum. Unter der Bedingung, dass ihr nicht ständig nachfragt und euch einmischt.« »Aber du suchst nicht wahllos irgendeinen Kinderpsychiater, ja? Du hörst dich schon um?« »Vertraust du mir, Liebes?« »Ja«, bekräftigte Paul energisch, um bei Camille alle Zweifel auszuräumen. »Mona bewundert und respektiert dich, und sie liebt dich wie sonst niemanden. Natürlich vertrauen wir dir.« Camille hatte den entschlossenen Worten ihres Mannes nichts hinzuzufügen. Henry spürte, wie sein gesundes Auge feucht wurde. Coltranes Saxofon ließ die Wände beben. Mona schlief in ihrem Zimmer, behütet von Georges Seurat. 26. SEP <strong>2024</strong> THOMAS SCHLESSER MONAS AUGEN Eine Reise zu den schönsten Kunstwerken unserer Zeit Aus dem Französischen von Nicola Denis Hardcover 544 Seiten 26,00 € (D) 26,80 € (A) ISBN 978-3-492-07296-0 Bestellen Sie Ihr digitales Leseexemplar zum Erscheinungs termin auf piper.de/leseexemplare oder schreiben Sie eine E-Mail an: sales_reader@piper.de (BuchhändlerInnen), press@piper.de (Presse)
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