18.04.2024 Aufrufe

PIPER Reader Herbst 2024

  • Keine Tags gefunden...

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

74<br />

GENEVIEVE KINGSTON<br />

LESEPROBE<br />

Ihr Haar war nach einer letzten Chemo-Runde kurz,<br />

und auf ihrer Stirn zeigten sich blasse Narben an den<br />

Stellen, an denen einst ein metallener Ring in ihren<br />

Schädel geschraubt worden war. Damit sollte der<br />

Krebs behandelt werden, der sich auf ihr Gehirn ausgeweitet<br />

hatte. Sie war wie eine Landkarte, dachte<br />

ich. Nur wusste ich nicht, wohin sie führte.<br />

Jemand füllte eine Schüssel mit Wasser. Wir tauchten<br />

Tücher in die Schüssel und befeuchteten ihre<br />

Haut. Sie war jetzt kühler, sie verlor jede Minute an<br />

Wärme. Ich kämpfte gegen den Impuls an, mich auf<br />

ihren Rücken zu legen und ihn mit meinem Körper<br />

zu bedecken, um sie ein wenig länger warm zu halten.<br />

Die Zeit verging bereits sehr schnell. Sie rann mir<br />

durch die Finger wie das Wasser, so sehr ich auch versuchte,<br />

die Sekunden in die Länge zu ziehen.<br />

Ich bemerkte ein Muttermal auf ihrer Brust und versuchte<br />

mir seine genaue Form und Position einzuprägen.<br />

Ich bemerkte die hellen Dehnungsstreifen,<br />

die sich um ihre Brüste und am Bauch abzeichneten,<br />

Spuren zweier Schwangerschaften. Ich bemerkte die<br />

feinen Furchen auf ihren Fingernägeln und die tiefen<br />

Linien in ihren Handflächen – und wünschte, ich<br />

könnte sie lesen. Vielleicht hatten sie eine Geschichte<br />

mit einem anderen Ausgang zu erzählen. Mir fiel das<br />

leuchtend grüne Display des CD-Weckers in Auge:<br />

Es war 10:00 Uhr an einem Mittwochabend. Wir<br />

hätten eigentlich Star Trek sehen sollen.<br />

Meine Mutter war ein schlaksiger, dunkelhaariger<br />

Teenager gewesen, als die ursprüngliche Star-Trek-<br />

Serie zum ersten Mal ausgestrahlt wurde. Ich stellte<br />

mir vor, dass sie – wie viele Mädchen ihres Alters –<br />

für Captain Kirk schwärmte, gespielt von dem jungen<br />

William Shatner. Als in den späten Achtzigern<br />

die Nachfolgeserie, The Next Generation, gesendet<br />

wurde, wurde das gemeinsame Ansehen der Folgen<br />

in unserer Familie ein Ritual. Solange ich zurückdenken<br />

kann, quetschten wir vier uns auf die abgenutzte<br />

braune Kunstledercouch, sobald die Worte »Der<br />

Weltraum, unendliche Weiten« in Patrick Stewarts<br />

Bariton der Royal-Shakespeare-Gesellschaft aus<br />

unserem klobigen schwarzen Fernseher erklangen.<br />

Diese Worte signalisierten, dass ich für die nächste<br />

Stunde von meiner Familie umgeben sein würde,<br />

sicher und geborgen. Meine Lieblingsfigur auf dem<br />

Raumschiff war Counselor Deanna Troi, und ich<br />

träumte davon, dass sich eines Tages meine glatten<br />

blonden Fransen in ihre beeindruckende dunkle<br />

Lockenpracht verwandeln würden.<br />

Für mich erschloss sich durch die Serie auch ein neues<br />

Zeitkonzept. Zeit war in Star Trek etwas, das verändert,<br />

umgestaltet und nachbearbeitet werden konnte.<br />

Wenn die »Enterprise« explodierte, wusste ich, dass<br />

jemand in der Zeit zurückgehen und sie reparieren<br />

musste. Tausendmal bin ich in meiner Fantasie durch<br />

die Ebenen der Zeit getaucht, bis hin zu dem Moment,<br />

als der Krebs meiner Mutter begann, um ihn<br />

herauszureißen, bevor er Wurzeln schlagen konnte.<br />

Nach der Ausstrahlung der letzten Folge von The Next<br />

Generation erlaubte mir meine Mutter dann, mittwochsabends<br />

lange mit ihr aufzubleiben, um Star<br />

Trek: Voyager zu sehen. Meine Bewunderung für die<br />

Kommandantin der Voyager, Kathryn Janeway, stellte<br />

das, was ich für Deanna Troi empfunden hatte, weit<br />

in den Schatten. Janeways Raumschiff war mitsamt<br />

seiner Crew in einem entlegenen Quadranten der<br />

Galaxie, Tausende von Lichtjahren entfernt von zu<br />

Hause, gestrandet. Voyager war eine Geschichte des<br />

Heimwehs, und ich empfand eine solche Sehnsucht,<br />

solange ich denken konnte – nicht einfach nach einem<br />

Ort oder einem Menschen, sondern nach einer Welt,<br />

in der meine Mutter nicht sterben würde. Und Captain<br />

Janeway hatte glattes dunkelblondes Haar.<br />

Mittwoch für Mittwoch sahen meine Mutter und ich<br />

dabei zu, wie die Voyager sich im Delta-Quadranten<br />

behauptete und ein weiteres Hindernis auf einer<br />

Reise, für die mehr als siebzig Jahre veranschlagt<br />

waren, aus dem Weg räumte. Zuerst saßen wir zusammen<br />

auf der Couch, wenn wir die Serie schauten,<br />

dann Seite an Seite in ihrem Krankenhausbett. Und<br />

schließlich, als sie nicht mehr wach war, saß ich beim<br />

Fernsehen an ihrem Bett und hielt ihre Hand. Sie<br />

verpasste die letzte Folge um drei Monate.<br />

Und so war ich am Mittwoch, dem 7. Februar 2001, um<br />

10:00 Uhr abends dabei, den Körper meiner Mutter

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!