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MOHAMED AMJAHID<br />
79<br />
INTERVIEW<br />
INTERVIEW<br />
Immer wieder gibt es Schlagzeilen zu<br />
rassistischen Polizeichats, Racial Profiling<br />
und Polizeigewalt. Sind das Einzelfälle oder<br />
haben wir ein Polizeiproblem?<br />
Genau diese Frage war die Ausgangslage für mein<br />
neues Buch. Indem ich alle »Einzelfälle« betrachte,<br />
versuche ich eine Struktur aufzuzeigen. Neben der<br />
dichten Beschreibung dieser einzelnen Fälle braucht<br />
es meines Erachtens auch einen ganzheitlichen Blick<br />
auf das Phänomen. Nur ein paar Zahlen: Jährlich gibt<br />
es laut einer Bochumer Studie mindestens 12.000<br />
mutmaßlich rechtswidrige Übergriffe durch Polizeibeamte.<br />
Das sind 33 pro Tag. Die Dunkelziffer müsste<br />
deutlich höher sein. So versuche ich meine eigenen<br />
Recherchen, die Arbeit von vielen Kolleg*innen, wissenschaftliche<br />
und aktivistische Arbeit zu analysieren<br />
und aufzuzeigen, dass wir in Deutschland ein strukturelles<br />
Polizeiproblem haben, über das wir unbedingt<br />
sprechen müssen.<br />
Worin besteht dieses System hinter der<br />
Polizeigewalt?<br />
Es herrscht eine sogenannte Cop Culture, also eine Kultur<br />
des Wegschauens und der systematischen Billigung<br />
von Machtmissbrauch. Aber auch die Rolle der Medien,<br />
die Wirkmacht von Polizeigewerkschaften oder<br />
der Innenpolitik spielt hier eine entscheidende, leider<br />
sehr negative Rolle. Ich beschreibe darüber hinaus eine<br />
dysfunktionale Justiz in Deutschland, wenn es darum<br />
geht, das Polizeiproblem juristisch aufzuarbeiten: Weniger<br />
als ein Prozent der Fälle von Polizeigewalt enden<br />
mit einer Verurteilung. Da stimmt etwas nicht. Deswegen<br />
habe ich mich auf die Suche nach den Ursachen<br />
gemacht. Im Rahmen des Systems gab es seit 1976<br />
allein in der Bundesrepublik rund 500 Todesopfer<br />
durch Schüsse der Polizei, jeder Tote ist dabei einer zu<br />
viel. Dabei sind andere Todesursachen in Verknüpfung<br />
mit Polizeigewalt da gar nicht mitgezählt. Das ist die<br />
Fallhöhe bei diesem Thema. Viele Menschen in diesem<br />
Land haben zu Recht Angst vor der Polizei.<br />
Ist (tödliche) Polizeigewalt denn eine Gefahr<br />
für alle?<br />
Ja, sie kann jeden treffen. Und sie trifft auch theoretisch<br />
jeden. Das kann ich in den Daten sehen. Bei<br />
meiner Analyse habe ich aber festgestellt, dass es mit<br />
Blick auf Polizeigewalt einige besonders verletzbare<br />
Gruppen gibt. Zum Beispiel minderjährige, traumatisierte<br />
Geflüchtete. Das zeigt sich gut am Fall<br />
des 16-jährigen Mouhamed Dramé, der im August<br />
2022 in Dortmund von Polizist*innen erschossen<br />
wurde. Auch Menschen mit psychischer Erkrankung<br />
sind besonders gefährdet. Da schaue ich mir im Buch<br />
mehrere Fälle an: Ante P., der im Mai 2022 in Mannheim<br />
bei einem Polizeieinsatz ums Leben kam, oder<br />
Mohamed Idrissi, der im Juni 2020 in Bremen von<br />
der Polizei erschossen wurde. Oury Jalloh ist ein berühmter<br />
Fall. Jalloh ist im Januar 2005 in Dessau in<br />
Polizeigewahrsam bei lebendigem Leibe verbrannt.<br />
Wie kann das sein? Ich habe irgendwann damit angefangen,<br />
jeden Fall von Polizeigewalt zu dokumentieren,<br />
in Archiven zu lesen und direkt mit Zeug*innen<br />
und Betroffenen zu sprechen.