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56<br />

M AT THI A S LOHR E<br />

INTERVIEW<br />

INTERVIEW<br />

Lieber Matthias, für deinen großen, überaus<br />

spannenden Roman hast du es dir nun wirklich<br />

nicht leicht gemacht. Die Manns gelten als<br />

die am genauesten durchleuchtete deutsche<br />

Familie. Großeltern, Eltern, Tanten, Onkel,<br />

Kinder und Enkel – sie alle haben geschrieben,<br />

auch über sich und einander. Und doch hast<br />

Du einen rätselhaften weißen Fleck gefunden,<br />

und das ausgerechnet im Leben jener beiden<br />

Brüder, die den Weltruhm ihrer Sippe begründet<br />

haben: Thomas und Heinrich. Als junge<br />

Männer reisten sie 1896 gemeinsam für eineinhalb<br />

Jahre durch Italien. Was war geschehen?<br />

Thomas ist 21 Jahre alt, ein zielloser Sitzenbleiber, als<br />

er dem bewunderten älteren Bruder gen Süden folgt.<br />

Zurück kehrt er, von seinem Genie überzeugt, mit<br />

dem dicken, immer weiter anwachsenden Manuskript<br />

seines Debütromans. »Buddenbrooks« bringt<br />

ihm später den Nobelpreis ein. Wie passt das zusammen?<br />

Die Frage hat mich fasziniert, seit ich begann,<br />

mich für den Menschen Thomas Mann zu interessieren.<br />

Mir kam es vor, als gebe es da zwei Seelen in<br />

seiner Brust: Einerseits war er extrem feinfühlig und<br />

anlehnungsbedürftig. Kaum jemand hat seelische<br />

Qualen so anschaulich und mit mehr Mitgefühl geschildert<br />

als er. Andererseits konnte er eiskalt sein,<br />

sogar gegenüber seinen Nächsten. Überhaupt, die<br />

Liebe: Er suchte und fand Halt bei Katia, mit der<br />

ein halbes Jahrhundert lang verheiratet war, und mit<br />

der er sechs Kinder zeugte. Doch romantische Verschmelzungssehnsüchte<br />

kannte er allein für junge<br />

Männer, die er aus der Ferne anhimmelte. Er sehnte<br />

sich nach der Grenzüberschreitung und fürchtete<br />

nichts mehr als sie. Das trug auch bei zur Rivalität mit<br />

Heinrich, dem vier Jahre Älteren, der seine Sexualität<br />

mit Frauen offen auslebte – und auch noch darüber<br />

schrieb. Unter seinen widerstreitenden Sehnsüchten<br />

und Ängsten hat Thomas schrecklich gelitten – und<br />

sie für sein Werk fruchtbar gemacht. Aber wie, fragte<br />

ich mich, brachte er all das überein? Ich bin sicher:<br />

Damals in Italien ist er über die Frage, wer er sei, in<br />

Thomas<br />

Der 21-Jährige ist ein Träumer. Wie gern<br />

würde er die Welt beeindrucken mit seinen<br />

Kurzgeschichten über Tod und vereitelte<br />

Liebe. Doch leider finden die pathetischen<br />

Erzählungen bei Zeitschriftenverlagen<br />

kaum Anklang. So wohnt der Dichter in spe<br />

wieder bei seiner Mutter. Die ist nach dem<br />

frühen Tod ihres Mannes, einem im Kleinstaat<br />

Lübeck allseits bewunderten Kaufmann<br />

und Senator, ins lockere München<br />

gezogen. Eine Ausbildung in einer Versicherungsbank<br />

hat Thomas, der mehrfache<br />

Sitzenbleiber ohne Abitur, abgebrochen.<br />

Er lebt von einer schmalen Rente aus dem<br />

väterlichen Firmenerbe. Früher oder später<br />

wird Thomas den Militärdienst ableisten<br />

müssen. Verzweifelt sucht er einen Ausweg.<br />

Die Lösung: Er reist für eineinhalb<br />

Jahre zu Heinrich nach Italien. Sein Bruder<br />

verkörpert alles, wonach er sich sehnt.

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