PIPER Reader Herbst 2024
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7<br />
HUSCH JOSTEN<br />
LESEPROBE<br />
änderte, traf allweihnachtlich ein Fotogruß von ihnen<br />
ein. Ich ließ ihn alle Jahre wieder unbeantwortet –<br />
Weihnachtskarten habe ich noch nie etwas abgewinnen<br />
können. Nicht einmal denen von Tessa, die keine<br />
glücksposaunende Familienaufstellung, sondern<br />
schnörkellose Winterimpressionen schickte.<br />
Ich platzierte die beiden an Souries angestammtem<br />
Tisch nahe der Bar, holte einen leichten Pfälzer<br />
Weißwein und setzte mich dazu.<br />
»Wir kennen uns vom Sehen«, erzählte Sourie, der<br />
den Zufall unserer Zusammenführung offenbar nicht<br />
weiter bemerkenswert fand. »Schon lange. Haben uns<br />
nie länger unterhalten, aber ich wusste natürlich, dass<br />
ihr Vater vorgestern verstorben ist. So kamen wir ins<br />
Gespräch.«<br />
Ich wunderte mich, dass er sich wie ein Schuljunge<br />
erklärte.<br />
»Jedenfalls sprachen wir über frühere Zeiten: Kindheit,<br />
Jugend.«<br />
»Die Zeit, in der keiner an den Tod denkt«, ergänzte<br />
Tessa. »Er hatte keinen Platz. Natürlich war er da.<br />
Jeden Tag in den Nachrichten oder in Filmen. Aber<br />
er fand ausschließlich woanders und weit weg statt,<br />
nicht wahr? Man konnte ihn mit der Fernbedienung<br />
ausknipsen. Also haben wir ihn in absurde Theorie gewickelt<br />
und für später auf dem Dachboden verstaut.«<br />
Ich nickte nur.<br />
»Als sie das sagte, hatte ich eine Idee«, verkündete<br />
Sourie. »Tessa hat mich auf einen Gedanken gebracht,<br />
und so habe ich sie zum Essen überredet. Man muss<br />
den Tod aus seiner Verpackung wickeln und vom<br />
Dachboden herunterholen, verstehst du?«<br />
»Nicht ganz …«, gestand ich, aber seinen Überlegungen<br />
war gelegentlich schwer zu folgen. Manchmal<br />
»<br />
MAN MUSS DEN<br />
TOD AUS SEINER<br />
VERPACKUNG<br />
WICKELN UND<br />
VOM DACHBO-<br />
DEN HERUNTER-<br />
HOLEN, VER-<br />
STEHST DU?<br />
kam es dem flüchtigen Lesen von Plakaten oder Werbebannern<br />
gleich, wenn das Gehirn in aller Schnelle<br />
Buchstaben falsch zusammensetzt. Erst vor wenigen<br />
Tagen war im Vorbeifahren für mich aus der Werbung<br />
für einen Firestick ein Restfick geworden, worauf ich<br />
dann doch angehalten und erneut gelesen hatte. Mit<br />
Souries rasanten Gedankensplittern, nein, mit ihm<br />
selbst verhielt es sich ähnlich. Worte zerbröselten<br />
an seinem Wesen, zerfielen in ihre Einzelteile, bezeichneten<br />
ein paar seiner Eigenschaften, schlossen<br />
jedoch die entgegengesetzten aus, die genauso zu ihm<br />
gehörten. Sourie war – anders. Zu alt für seine siebenundzwanzig<br />
Jahre. Verblüffend belesen. Zwingend.<br />
Immer liebenswürdig. Schrullig. Spielerisch. Er übte<br />
eine Anziehungskraft auf mich aus, die ich bis heute<br />
kaum erklären kann und der ich mich von Anfang<br />
an nicht entziehen konnte, sosehr ich mich generell<br />
bemühte, persönliche Kontakte zu meiden. Aber er<br />
war die Ausnahme, seit er zweieinhalb Jahre zuvor<br />
erstmals zum Essen gekommen war. Da hatte ich als<br />
Nachfolger meines Vaters, Groß- und Urgroßvaters<br />
gerade das Tobelmann übernommen, und mit der<br />
Selbstverständlichkeit zweier Menschen, die es nicht<br />
darauf anlegten, waren wir im Laufe der Zeit so etwas<br />
wie Freunde geworden. Nicht im herkömmlichen<br />
Sinn von Freundschaft. Wir verabredeten uns nicht,<br />
gingen nicht gemeinsam zu Konzerten oder ins Kino,<br />
unternahmen keine Ausflüge und trafen uns auch