PIPER Reader Herbst 2024
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AURELIA HÖLZER<br />
LESEPROBE<br />
eisige Ebene, die mir nach dieser langen Zeit ohne<br />
jegliche Sicht wie ein neues Wunder erscheint. Silbrig<br />
schimmernd liegt sie da, soweit das Auge reicht.<br />
Diese Unendlichkeit! Sie strahlt eine ergreifende Einsamkeit<br />
aus. Mir ist, als würde ich alles zum ersten<br />
Mal sehen, als wäre hier in dem wochenlangen Tosen,<br />
abgeschirmt von jedem menschlichen Blick, eine<br />
neue Welt erschaffen worden. Vorhang auf für eine<br />
neue Stille, eine frisch geborene Weite, einen nie gekannten<br />
überirdischen Mondglanz.<br />
Ich mache es mir gemütlich und richte meinen Blick<br />
gen Südpol, in die entrückte Einsamkeit, da erscheint<br />
unvermittelt ein heller Strahl am Himmel, gestochen<br />
scharf, erst gelb, dann grün. Noch einer, und<br />
noch einer. Die Strahlen schnellen wie Pfeile durch<br />
den Himmel, verteilen sich als Schleier und fangen<br />
an zu tanzen. Mir kommen die Tränen, so unbegreiflich<br />
schön ist es. Als würde der Himmel aufreißen<br />
und man könnte die Götter tanzen sehen. Jetzt fährt<br />
eine helle Sternschnuppe langsam mitten durch die<br />
wogenden Polarlichter, während lautlos ein mondsilberner<br />
Schneesturmvogel über mir durch die Nacht<br />
gleitet. Sterben, bitte, jetzt! So viel Ehrfurcht, so viel<br />
Schönheit kann ein einzelnes Menschenherz nicht<br />
fassen.<br />
Der Moment vergeht. Ich laufe schnell hinunter in<br />
die Lounge, die anderen und vor allem Micha holen.<br />
Er verbringt bei tiefsten Minusgraden halbe Nächte<br />
auf dem Dach, um Polarlichter zu fotografieren. Nach<br />
und nach kommen die anderen heraus, noch einmal<br />
bescheren die Lichter uns einen spektakulären Tanz,<br />
dann werden sie wieder schwach und milchig, die Alltagspolarlichter.<br />
Wir holen uns ein paar Stühle und<br />
machen es uns im Windschatten der Wetterballonhalle<br />
bequem. Abwechselnd schwatzen und schweigen<br />
wir, und schauen in diese silberne Welt, deren unbegreifliche<br />
Schönheit über tausende von Kilometern<br />
von keinem menschlichen Auge gesehen wird. Sie ist<br />
für sich. Ein ganzer riesiger Kontinent, menschenleer.<br />
Nur ein paar Handvoll Menschlein, isoliert festsitzend<br />
auf ihren Forschungsstationen, dürfen einen<br />
Blick darauf erhaschen, dürfen an einem winzigen<br />
Punkt vielleicht erahnen, welch einsame ungesehene<br />
Schönheit sich über diesen Erdteil erstreckt. Ich bleibe<br />
noch lange draußen, es ist einfach zu schön, um hineinzugehen.<br />
Auf dem Meereis<br />
Nun steht die erste Meereismessung an. Das ist für<br />
uns eine große Sache. Die Messungen auf der zugefrorenen<br />
Atka-Bucht sind legendär und berüchtigt,<br />
alle haben Respekt davor. Erst in der kältesten, dunkelsten<br />
Jahreszeit steht die erste Meereisfahrt an und<br />
man ist unter Umständen zehn, zwölf Stunden unterwegs,<br />
weit entfernt von der Station auf dem eisbedeckten<br />
Meer. Zehn Kilometer sind es bis zur Rampe, die<br />
zum Meereis hinunterführt, 25 Kilometer über die<br />
Bucht und alles wieder zurück. Dazwischen heißt es<br />
an jedem Messpunkt abladen, graben, bohren, messen,<br />
protokollieren, wieder aufladen. Und alles bei Kälte<br />
und fast durchgehender Finsternis. Da eisbedingt noch<br />
nicht die ganze Bucht zum Befahren freigegeben ist,<br />
soll es diesmal nur zum ersten Messpunkt »Atka 03«<br />
gehen, also drei Kilometer auf die Atka-Bucht hinaus.<br />
Die kurze Tour ist perfekt für uns Meereis-Neulinge,<br />
so können wir uns ohne Zeitdruck einarbeiten.<br />
Der Himmel tanzt –<br />
Aurora Australis in<br />
der Polarnacht