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PIPER Reader Herbst 2024

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113<br />

AURELIA HÖLZER<br />

LESEPROBE<br />

eisige Ebene, die mir nach dieser langen Zeit ohne<br />

jegliche Sicht wie ein neues Wunder erscheint. Silbrig<br />

schimmernd liegt sie da, soweit das Auge reicht.<br />

Diese Unendlichkeit! Sie strahlt eine ergreifende Einsamkeit<br />

aus. Mir ist, als würde ich alles zum ersten<br />

Mal sehen, als wäre hier in dem wochenlangen Tosen,<br />

abgeschirmt von jedem menschlichen Blick, eine<br />

neue Welt erschaffen worden. Vorhang auf für eine<br />

neue Stille, eine frisch geborene Weite, einen nie gekannten<br />

überirdischen Mondglanz.<br />

Ich mache es mir gemütlich und richte meinen Blick<br />

gen Südpol, in die entrückte Einsamkeit, da erscheint<br />

unvermittelt ein heller Strahl am Himmel, gestochen<br />

scharf, erst gelb, dann grün. Noch einer, und<br />

noch einer. Die Strahlen schnellen wie Pfeile durch<br />

den Himmel, verteilen sich als Schleier und fangen<br />

an zu tanzen. Mir kommen die Tränen, so unbegreiflich<br />

schön ist es. Als würde der Himmel aufreißen<br />

und man könnte die Götter tanzen sehen. Jetzt fährt<br />

eine helle Sternschnuppe langsam mitten durch die<br />

wogenden Polarlichter, während lautlos ein mondsilberner<br />

Schneesturmvogel über mir durch die Nacht<br />

gleitet. Sterben, bitte, jetzt! So viel Ehrfurcht, so viel<br />

Schönheit kann ein einzelnes Menschenherz nicht<br />

fassen.<br />

Der Moment vergeht. Ich laufe schnell hinunter in<br />

die Lounge, die anderen und vor allem Micha holen.<br />

Er verbringt bei tiefsten Minusgraden halbe Nächte<br />

auf dem Dach, um Polarlichter zu fotografieren. Nach<br />

und nach kommen die anderen heraus, noch einmal<br />

bescheren die Lichter uns einen spektakulären Tanz,<br />

dann werden sie wieder schwach und milchig, die Alltagspolarlichter.<br />

Wir holen uns ein paar Stühle und<br />

machen es uns im Windschatten der Wetterballonhalle<br />

bequem. Abwechselnd schwatzen und schweigen<br />

wir, und schauen in diese silberne Welt, deren unbegreifliche<br />

Schönheit über tausende von Kilometern<br />

von keinem menschlichen Auge gesehen wird. Sie ist<br />

für sich. Ein ganzer riesiger Kontinent, menschenleer.<br />

Nur ein paar Handvoll Menschlein, isoliert festsitzend<br />

auf ihren Forschungsstationen, dürfen einen<br />

Blick darauf erhaschen, dürfen an einem winzigen<br />

Punkt vielleicht erahnen, welch einsame ungesehene<br />

Schönheit sich über diesen Erdteil erstreckt. Ich bleibe<br />

noch lange draußen, es ist einfach zu schön, um hineinzugehen.<br />

Auf dem Meereis<br />

Nun steht die erste Meereismessung an. Das ist für<br />

uns eine große Sache. Die Messungen auf der zugefrorenen<br />

Atka-Bucht sind legendär und berüchtigt,<br />

alle haben Respekt davor. Erst in der kältesten, dunkelsten<br />

Jahreszeit steht die erste Meereisfahrt an und<br />

man ist unter Umständen zehn, zwölf Stunden unterwegs,<br />

weit entfernt von der Station auf dem eisbedeckten<br />

Meer. Zehn Kilometer sind es bis zur Rampe, die<br />

zum Meereis hinunterführt, 25 Kilometer über die<br />

Bucht und alles wieder zurück. Dazwischen heißt es<br />

an jedem Messpunkt abladen, graben, bohren, messen,<br />

protokollieren, wieder aufladen. Und alles bei Kälte<br />

und fast durchgehender Finsternis. Da eisbedingt noch<br />

nicht die ganze Bucht zum Befahren freigegeben ist,<br />

soll es diesmal nur zum ersten Messpunkt »Atka 03«<br />

gehen, also drei Kilometer auf die Atka-Bucht hinaus.<br />

Die kurze Tour ist perfekt für uns Meereis-Neulinge,<br />

so können wir uns ohne Zeitdruck einarbeiten.<br />

Der Himmel tanzt –<br />

Aurora Australis in<br />

der Polarnacht

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