PIPER Reader Herbst 2024
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36<br />
CLARA MARIA BAGUS<br />
LESEPROBE<br />
LESEPROBE<br />
Du bist nur ein einziges, unwiederholbares Mal<br />
auf dieser Welt.<br />
Worauf wartest du? Fang an zu leben.<br />
Es ist viel später, als du denkst.<br />
Lew, fünfundvierzig, ist ein gutaussehender Mann<br />
auf die ungeschliffene Weise. Er ist groß, schlank, hat<br />
dunkles, leicht gewelltes Haar, markante Züge und<br />
einen gepflegten Sechstagebart. Ein leicht vorspringendes<br />
Kinn betont das scharf geschnittene Gesicht.<br />
Ein dichter schwarzer Wimpernkranz umgibt seine<br />
grauen Augen. Sein sehniger Körper bewegt sich mit<br />
einer natürlichen Zwanglosigkeit.<br />
Lews ganzes bisheriges Leben ist windstill verlaufen.<br />
Ohne größere Aufstiege oder Abstürze, ohne nennenswerte<br />
Erschütterungen oder Gefahren. Nie hat<br />
ein Sturm, selten ein scharfer Luftzug hineingeweht<br />
in seine behagliche Existenz. Und wenn das Schiff,<br />
auf dem er gerade durchs Leben segelte, doch einmal<br />
leckte und voller Wasser lief, schnappte er sich ein<br />
Rettungsboot und ging von Bord.<br />
Lews Leben ist eines mit wenigen Spannungen und<br />
nur unmerklichen Veränderungen. Aufgrund unzähliger<br />
Abschirmungen geschieht in seiner Welt nie<br />
etwas Plötzliches. Die Katastrophen, die sich auf der<br />
Erde ereignen, finden in seiner Wahrnehmung in der<br />
Peripherie statt, durchdringen jedoch nie sein gut gepolstertes,<br />
abgesichertes Dasein. Er ist viel zu sehr mit<br />
sich selbst beschäftigt, als dass er fremdes Leid in den<br />
mannigfaltigen Erscheinungsformen an sich herankommen<br />
lässt. Was draußen in der Welt geschieht,<br />
ereignet sich praktisch nur in der Zeitung, klopft nie<br />
an seine Wohnungstür. Stets im gleichen Rhythmus<br />
lässt er sich von der Welle der Zeit weitertragen.<br />
Er ist ein Mann, der jedem Gedanken an Familie ausweicht.<br />
Sein Leben lang schon ist er ein unabhängiger,<br />
freiheitsliebender Mensch, der sich jeglicher Art von<br />
Vertrautheit und Verpflichtung entzieht. Er liebt das<br />
unbeschwerte Kosten und Genießen.<br />
Obwohl seine Freunde längst verheiratet sind und<br />
teils schon beinahe erwachsene Kinder haben, betrachtet<br />
Lew sich noch immer als jemand, der unermesslich<br />
viel Zeit vor sich hat.<br />
Er fühlt sich wohl in der Rolle des Liebhabers. Gekonnt<br />
versteht er es, den emotionalen Schlaglöchern<br />
des Lebens auszuweichen. Wenn es ihm zu eng wird,<br />
stiehlt er sich einfach davon und hinterlässt nichts als<br />
Chaos – ganz so wie ein Dieb ein geplündertes Haus.<br />
Für ihn lässt sich Partnerschaft am besten als Destillat<br />
leben, in kurzen, konzentrierten Dosen. Alles,<br />
was danach kommt, geht ihn nichts an. Er besitzt das<br />
Talent, Erwartungen zu enttäuschen.<br />
Tief berührt ihn keine. Außer diese eine Frau – in<br />
einer Begegnung vor zehn Jahren –, die ihn verzaubert<br />
hat wie keine davor und keine danach. In einer<br />
einzigen Nacht. Es war nicht einmal Sex gewesen.<br />
Ein bloßer Kuss. Die Magie eines Augenblicks. Der<br />
Funke, den man nie vergisst. Sie war ihm »zugestoßen«,<br />
diese Frau.<br />
Jedes Mal, wenn er daran denkt, wie seine Fingerspitzen<br />
über ihre Arme, ihren Hals, ihr Gesicht geglitten<br />
waren und sie ertastet hatten, spürt er mit Erstaunen,<br />
aus welcher Ferne diese Frau in sein Leben getreten<br />
war, es umgeworfen, mit einem Sturm von Glück erfüllt<br />
und es wieder verlassen hatte.<br />
In den Beziehungen, die er seitdem mit Frauen führt,<br />
vermisst er stets etwas, das ihn zum Bleiben bekehrt.