PIPER Reader Herbst 2024
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LESEPROBE<br />
25<br />
DENIS SCHECK<br />
LESEPROBE<br />
Aus dem Vorwort:<br />
Ich liebe Bücher – leidenschaftlich und von Kindesbeinen<br />
an. Und ich möchte möglichst viele Menschen<br />
mit dieser Leidenschaft anstecken. Ich liebte das Lesen<br />
selbst schon in jener Zeit, als ich noch gar nicht<br />
lesen konnte, nämlich vom ersten Tag an, als mir<br />
vorgelesen wurde. Was für ein wundervolles Gefühl,<br />
sich ganz und gar in einer Geschichte zu verlieren …<br />
und hernach gestärkt wiederzufinden. Vorgelesen<br />
wurde mir erst von meiner Mutter aus Grimms Märchen,<br />
später von meiner einige Jahre älteren Schwester<br />
aus Erich Kästners Pünktchen und Anton. Des<br />
Teufels Großmutter, die sieben Geißlein im Uhrenkasten,<br />
der Goldklumpen von Hans im Glück – aber<br />
auch die sechs Schwanenhemden für die sechs Brüder,<br />
der Machandelboom oder der Fischer und seine<br />
raffgierige Frau, die erst Kaiser, dann Papst werden<br />
möchte, ohne den Hals je voll genug zu bekommen.<br />
Ich weiß nicht, was mir damals realer erschien: Die<br />
Wirklichkeit von Pünktchen und Anton, die im Berlin<br />
der Weimarer Republik beide betteln, die eine,<br />
weil sie ihre Kinderfrau dazu zwingt, der andere<br />
aus Not, oder die Angst der Geißlein vor dem bösen<br />
Wolf. Wenig später kamen die Europa-Märchenplatten<br />
im Plattenspielerschrank dazu: Hans Paetsch erzählte<br />
vom Kleinen Muck, von Zwerg Nase und Kalif<br />
Storch, Joachim Rake vom Schatzhauser und Holländer-Michel<br />
im Schwarzwalddrama Das kalte Herz,<br />
das mich heute noch das Gruseln lehrt. Ich wusste<br />
nicht, dass all diese für mich an grellfarbigster Exotik<br />
kaum überbietbaren Geschichten mein schwäbischer<br />
Landsmann Wilhelm Hauff ersonnen hatte, der vor<br />
200 Jahren noch nicht mal 25-jährig an Typhus starb<br />
und heute auf dem kleinen Hoppelau-Friedhof mitten<br />
in Stuttgart begraben liegt. Es ist einer der wenigen<br />
wirklich schönen und entspannenden Orte in der Innenstadt,<br />
den ich gern besuche, wenn ich etwas lesen<br />
will. Glasmännlein habe ich dort noch keine gesehen,<br />
aber ist es ein Zufall, dass rund um Wilhelm Hauffs<br />
Grab immer besonders viele Eichhörnchen herumzuflitzen<br />
scheinen?<br />
Dass eine Stimme buchstäblich Stroh zu Gold spinnen,<br />
allein durch Worte die Bedrängnisse der Gegenwart<br />
vollkommen auslöschen und einen stattdessen<br />
mit Haut und Haar in eine unausdenkbar zauberhafte<br />
Fantasiewelt versetzen kann, erschien mir damals<br />
schlicht als ein Wunder. Und das ist auch ein gutes<br />
halbes Jahrhundert später noch so geblieben. Literatur<br />
ist Zauberei. Wortmagie. Für mich die größte Kunstleistung<br />
der Menschheit.<br />
Wenn ich heute Gert Westphal vom alten Stechlin erzählen<br />
höre, mit Andreas Fröhlich Bilbo Beutlin nach<br />
Mordor begleite oder mit Eva Mattes den irrwitzigen<br />
Dschungel von Missverständnissen und Vorurteilen<br />
im Beziehungsdrama von Elizabeth Bennet und<br />
Fitzwilliam Darcy durchforste, spüre ich manchmal<br />
noch die Gänsehaut, mit der ich von den Zauberpantoffeln<br />
und dem vergrabene Schätze anzeigenden Spazierstock<br />
des Kleinen Muck hörte.<br />
Bücher zählen zu meinen unverzichtbaren, weil verlässlichsten<br />
Lebensbegleitern. Sie sind mir ein Fels<br />
in der Brandung in Zeiten innerer Nöte und Anfechtungen,<br />
funktionieren zuverlässig gleichermaßen als<br />
Flucht- wie als Trostmittel; an besseren Tagen aber<br />
auch als Türöffner zu ungeahnten Freiheits- und<br />
Möglichkeitsräumen, unermesslichen Spielflächen<br />
der Imagination. Lesend habe ich mich in einen Bienenstaat<br />
integriert, Wälder gerodet und Land urbar<br />
gemacht, Familien und Städte gegründet und zerstört,<br />
alle Arten von Eheschlachten geschlagen, war Ritter,<br />
König, Bettelknabe, nicht zu vergessen Kurtisane,<br />
Hofdame und Kupplerin, habe gemordet und wurde<br />
gemeuchelt, sah galaktische Imperien im Verlauf von<br />
Jahrzehntausenden entstehen und wieder zerfallen.<br />
Fragt mich ein Fotograf heute nach einem Vorschlag<br />
für ein Motiv, zitiere ich gern Gotthold Ephraim Lessing,<br />
der vor gut 250 Jahren als kleines Kind einmal<br />
von einem Maler gefragt wurde, wie er portraitiert