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PIPER Reader Herbst 2024

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106<br />

THOMAS SCHLESSER<br />

LESEPROBE<br />

«<br />

ER MOCHTE<br />

ES, DASS EIN<br />

GEMÄLDE, EINE<br />

SKULPTUR, EINE<br />

FOTOGRAFIE<br />

DEN SINN DES<br />

LEBENS ANFA-<br />

CHEN KONNTE .<br />

Sammelsurium gab es nur zwei Dinge, die sich dem<br />

Schönen annäherten. Eine robuste amerikanische Industrielampe<br />

aus den Fünfzigern, die Paul irgendwo<br />

aufgetrieben, Mona geschenkt und an ihrem kleinen<br />

Sekretär befestigt hatte. Und dann, über dem Bett, ein<br />

gerahmtes Ausstellungsplakat, das ein Gemälde zeigt.<br />

Ein Schillern unendlich zarter, kühler Farben. Das<br />

Bild zeigte eine nackte Frau im Profil, die leicht nach<br />

vorn gebeugt auf einem mit einem weißen Stoff überzogenen<br />

Hocker saß und den linken Knöchel auf das<br />

rechte Knie gelegt hatte. In einer Ecke war zu lesen:<br />

»Musée d’Orsay Paris – Georges Seurat (1859-1891)«.<br />

Trotz dieser beiden Lichtblicke kam Henry zu der<br />

deprimierenden Erkenntnis, dass die Kindheit aus<br />

Bequemlichkeit oft von unwichtigen und hässlichen<br />

Dingen geprägt wurde. Und Mona stellte keine Ausnahme<br />

dar. Die Schönheit, die wahre künstlerische<br />

Schönheit, führte in ihrem Alltag nur ein Schattendasein.<br />

Das war völlig normal, sagte sich Henry: Die<br />

Verfeinerung des Geschmacks, die Ausbildung der<br />

Sensibilität würden sich später einstellen. Mit dem<br />

Unterschied – und dieser Gedanke schnürte ihm erneut<br />

die Luft ab –, dass Mona fast erblindet wäre und<br />

ihr, falls ihr Augenlicht in den kommenden Tagen,<br />

Wochen oder Monaten endgültig erlöschen würde,<br />

nur die Erinnerung an geschmacklose, banale Dinge<br />

bleiben würde. Ein ganzes Leben in Dunkelheit, bei<br />

dem sie mental mit dem Schlimmsten, was die Welt<br />

hervorbrachte, zurechtkommen musste, ohne Ausflucht<br />

in Form von Erinnerungen? Das war unmöglich.<br />

Und erschreckend.<br />

Zum großen Ärger seiner Tochter blieb Henry das<br />

gesamte Abendessen über schweigsam und unnahbar.<br />

Als Mona endlich ins Bett ging, drehte Camille mit<br />

entschlossener Miene Coltranes Saxofon lauter, das<br />

aus einer alten, verchromten Jukebox drang, um die<br />

Stimmen zu übertönen und sicherzugehen, dass ihre<br />

Tochter nichts hörte.<br />

»Papa. Mona scheint …«, sie zögerte mit ihrer Wortwahl,<br />

»das Vorgefallene bisher … gut zu verdauen.<br />

Aber der Arzt rät zu einer Betreuung durch einen<br />

Kinderpsychiater. Das wird vielleicht komisch für sie<br />

sein, und ich dachte, vielleicht könntest du sie zu dem<br />

Termin fahren, damit sie beruhigt ist …«<br />

»Ein Psychiater? Soll der wirklich verhindern, dass<br />

sie blind wird?«<br />

»Das ist hier doch nicht die Frage, Papa!«<br />

»Ich glaube doch, zumindest solange ihr euch nicht<br />

traut, sie dem Arzt zu stellen! Doktor wie noch mal?«<br />

»Er heißt Van Orst und ist sehr kompetent«, warf<br />

Paul ungeschickt ein, um sich an der Unterhaltung<br />

zu beteiligen.<br />

»Papa, warte«, fuhr Camille fort. »Paul und ich werden<br />

alles unternehmen, damit Mona nichts geschieht,<br />

hörst du? Aber sie ist zehn, und wir können nicht einfach<br />

so tun, als wäre nichts gewesen. Der Arzt hält<br />

ihr psychisches Gleichgewicht für einen wichtigen<br />

Faktor. Ich frage dich also nur, ob du dich darum<br />

kümmern willst, weil ich weiß, dass Mona dir vertraut.<br />

Hörst du, Papa?«<br />

Henry hörte sogar sehr gut. Doch in diesem Moment<br />

blitzte in seinem Kopf eine Idee auf, die er tunlichst<br />

für sich behielt. Er würde seine Enkelin nicht zu einem<br />

Kinderpsychiater bringen, nein … Stattdessen<br />

würde er ihr eine andere Behandlung verordnen, eine<br />

Behandlung, die vermochte, alles Hässliche in ihrer<br />

Kindheit zu kompensieren.<br />

Mona, die ihm ganz und gar vertraute, die ihm mehr<br />

Glauben schenkte als jedem anderen Erwachsenen, sollte<br />

ihn dorthin begleiten, wo das Schönste und Menschlichste<br />

auf der Welt aufbewahrt wird: ins Museum. Falls<br />

das Unglück wollte, dass Mona eines Tages für immer erblindete,<br />

könnte sie so wenigstens auf die visuellen Schätze<br />

in den Tiefen ihres Geistes zurückgreifen.

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